Leserprobe aus der Chronik der Strasse Blanická


Die Kindheit Hugos Ehefrau Vlasta und ihr erstes Heim


(Aus Hugos Manuskript, das er am 24. 11. 1996 begann, Erklärungen in Kursivschrift von seinem Sohn I. T.A., begonnen am 30. 7. 2011 und deutsche Übersetzung angefangen am 14.1.2015)

Vlastička (tschechisches Diminutiv von Vlasta), die spätere Gattin von Hugo, war ein kleines aufrichtiges und unbekümmertes Mädchen, das in einem kleinen Dorf Heiligen (tschechisch Světice) in der Nähe von Prag geboren wurde und bald die schönen und die bitteren Jahre kennenlernen musste, durch die ihre Heimat im Zwanzigsten Jahrhundert ging. Ihr Benehmen und ihr Name verrieten, wie aufrichtig sie ihre Heimat (auf Tschechisch “Vlast“) und ihre Geburtsstätte liebte. Anfänglich eine geliebte Tochter und Enkelin, wurde sie durch die Jahre teure Ehefrau, Mutter und dann auch Großmutter. Während die Zeit verging, haben ihr die bitteren Erlebnisse, bedingt durch das Böse, das dieses Jahrhundert überflutete, ihre Sorglosigkeit genommen und ersetzten sie allmählich durch Befürchtungen und Angst. Die Folgen von Geschehnissen, die durch bösartige Regime hervorgerufen wurden, in denen sie lebte, führten sie weg von ihrem Zuhause. Sie war aber noch in ihrem Alter fähig sich sehr lebhaft an schöne Zeiten ihrer Jugend in ihrer Heimat zu erinnern. Ihr relativ früher Tod in der Schweiz stürzte ihren Ehemann und Witwer Hugo in kummervolle Gedanken und Zeiten, aus denen er sich nur durch Niederschreiben von Erinnerungen erlösen konnte. Schwelgend in Gedanken an ihre Jugend, und ihre gemeinsamen Erlebnisse, die ihm von lebenslanger Erzählung und Vertiefung blieben, konnte er den Schmerz der Trennung besser ertragen. Hugo starb 16 Jahre nach Vlastička und es blieben nach ihm elf Hefte voll Erinnerungen zurück, die sein älterer Sohn I.T.A. zu bearbeiten begann, damit aus ihnen ein etwas vollständigeres Bild “des Lebens einer tschechischen Familie“ im 20. Jahrhundert entstehen konnte.


Die Mutter von Vlastička hieß Boženka und wurde im Dorf Heiligen (Svĕtice) geboren, in der Nähe von Ritschan (Říčany) bei Prag. Sie lebte in einer Bauernfamilie mit vier Geschwistern. Es war das Geschlecht der Hyneks.  Die jüngste Zdenka und ältere Franciska (Františka) waren ihre Schwestern und der jüngere Václav und ältere Jan waren ihre Brüder. Am Anfang der zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts hat es in der tschechischen Provinz nicht viele Bauernfamilien gegeben, die ein unbeschwertes Leben führten. Manchmal drückte man das spaßeshalber mit einem Sprichwort aus: Die gebratenen Tauben fliegen einem nicht ins Maul. Man hatte einigermaßen ein Broterwerb, aber keinen großen Wohlstand, und dazu musste man hart arbeiten. Das Gewicht der schweren Arbeit lastete vor allem auf den Frauen. Die ganze Sorge um die Familie trug insbesondere Marie, die Mutter der Boženka (tschechisches Diminutiv von Božena), eine energische Frau, die schon in frühen Jahren lernen musste, auf sich alleine gestellt zu sein. Ihre Eltern starben im 19. Jahrhundert an Pocken oder Cholera. Marie, Großmutter der Vlastička, herrschte mit einer gütigen aber auch festen Hand. Aber der Großvater Václav (der Name ist in Deutschtum als Wenzel bekannt) nahm das Leben leichter, lebte auf eine lockere Art, traf oft Kameraden und frequentierte Gasthäuser. Die Trinkfreunde liebten seine Gesellschaft, nutzten ihn aber aus, weil er für sie oft im Wirtshaus zahlte. Er tat es gerne und verschwendete das schwer verdiente Geld der Familie. Marie war aber nicht gewillt seinem unvernünftigen Spiel zuzuschauen, insbesondere dann, wenn sein Treiben Schulden hervorbrachte. Sie erklärte öffentlich in allen Kneipen des Dorfes, dass sie künftig für ihren Gatten keine Schulden zahlen würde. Damit hat sie glücklicherweise den Teufelskreis rechtzeitig unterbrochen.

Die Mutter, Boženka Hynková, aus dem Dorf Heiligen (Světice)


Das Leben in der Familie Hynek floss sonst ruhig bei der Arbeit im Haus, im Garten, im Stall bei den Kühen und Rössern und im Sommer hauptsächlich auf den Feldern, derer hatte man genügend zu bewirtschaften. Die Siedlung des Bauernhofs, in dem die Hyneks lebten, war geräumig, und für alle hatte es somit genug Platz. Das Anwesen war fast viereckig, mit einer Seitenlänge von ca. 60 x 60 m. Es befindet sich noch heute am alten Ort, der Kreuzung der Landstraße von Ritschan zu Tehov Berg (Tehovská hůra) und weiter nach Mukarow (Mukařov), und auch der Straße nach den Dörfern Babitz (Babice) und Všechromy. Die Straße nach Babitz führte über einen Abhang in der Richtung zum Dorfplatz von Svĕtice (Heiligen). Der Name könnte vom dem tschechischen Wortstamm „svět“, was die Welt bedeutet, abgeleitet worden sein. Das ähnliche Wort „světice“ bedeutet hingegen die Heilige. Das Wohnhaus des Bauernhofs war auf einem Hügel, es stand gerade neben der Landstraße zum Tehov Berg. Etwas tiefer unter dem Wohnhaus waren Scheunen und Ställe. Neben der Straße nach Babice waren Blumenbete und ein großer Obstgarten, der sich hinter niedriger Mauer, aus aufeinander gelegten Steinen, längst einem Abhang senkte. Bevor man in den Garten eintrat, ging man an einem Brunnen vorbei, der zuerst mit einem Hubbaum, dann einer Seilwinde, und später einer Pumpe bedient wurde. Zu der Zeit der zwanziger Jahre hatte man hier, wie auch anderswo, noch keinen elektrischen Strom und man leuchtete mit Petroleum - Lampe, die mit einem Glas – Zylinder und Lampendocht versehen war. Den Docht konnte man mit Hilfe eines Rädchens verschieben. Wenn der Docht nicht richtig eingestellt war, verursachte er eine Verunreinigung des Zylinders mit undurchsichtigem Ruß, was eine mühsame und unbeliebte Reinigung erzwang.

Auf dem Dorfplatz in Svĕtice war, und ist heute noch, ein Teich, durch den ein Bach floss, den man Ritschan (Říčany) - Bach nannte. Obwohl hier noch ein Rinnsal, nahm es in seinem weiteren Verlauf an Kraft zu. Es floss durch verschiedene Ortschaften wie Říčany, Kolovraty, Uhříněves, Dubeč und mündete in Běchovice in den größeren Bach Rokytka, der sich schließlich in Prag- Libeň (Lieben) mit der Moldau verbindet.

Das Dorf Svĕtice, Geburtsort von Vlastička, erstreckt sich auf beiden Seiten eines kleinen Tales, gebildet vom genannten Bach, der vom Osten nach Westen fließt. Beide Hänge des Tals, der nördliche und südliche sind relativ steil. Auf der nördlichen Anhöhe beginnen die großen Wälder von Černý Kostelec (Schwarzkosteletz).

Boženka, die Mutter von Vlastička, lernte  ihren späteren Ehemann, Tomáš Lehovec, bei einem Dorfball. Er war von einer schlanken hohen Gestalt, ein eleganter dörflicher Löwe, guter Tänzer, für den sich die Ballbesucherinnen ziemlich interessierten. Er stammte aus einer Bauernfamilie vom nahen Dorf Svojšovice (Schoschowitz), wo sein Vater und seine Mutter ein ausgedehntes Anwesen bewirtschafteten. Die Geschwister von Tomáš waren ein älterer Bruder Viktor und zwei Schwestern; die jüngere, Františka, fiel durch ihre Eleganz und Weltoffenheit auf, die sie für angenehme Seiten des Lebens empfänglich machte und die bäuerliche Schinderei mehr oder weniger verschmähen ließ. Von der anderen Schwester blieben wenige Erinnerungen.

Vater von Vlastička, Tomáš Lehovec, aus Schoschowitz (Svojšovice)


An den Bauernhof der Lehovec in Schoschowitz (tschechisch Svojšovice, früher Šešovice) kommen mir nur wenige Erinnerungen, deren Inhalt in meinem Gedächtnis wie durch ein Wunder blieb. Ich hörte, besser gesagt überhörte, die Geschichte in meiner Kindheit, da ich ein verspielter und zerstreuter Bub war, als ich zeitweise meine Sommerferien in Heiligen (Světice) verbrachte, was damals für mich ein magisches Dorf war. Das Gehöft hatte in früheren Zeiten eine besondere Bedeutung. Die Häuser waren um den Hof herum gebaut und die ganze Wirtschaft hatte um sich herum noch eine Mauer. Die Straße, ein allgemein genutzter Weg, ging durch das Anwesen und auf beiden der Seiten, der Ein- und Ausfahrt, stand ein großes Hoftor. Der Bauer konnte nach seinem Gutdünken die Pforten am Abend schließen und dann war es niemandem mehr möglich, bis in den Morgen, auf dem Weg durchzufahren. Gute fünfzig Jahre später, nachdem ich diese Geschichte vernahm, fuhr ich durch das unscheinbare neugebaute Dorf im Auto und hielt nach einem ähnlichen Bauernhaus Ausschau. Obwohl ich nichts dem Erzählen ähnliches sah, wusste ich nicht, dass ich mich im der Gemeinde Otice befand und nur etwas weiter der alte Kern des Dorfes Schoschowitz lag. Erst im Jahr 2012 und 2014 gelang es mit den Kontakt mit Frau Vlasta zu knüpfen, die aus jenem Bauernhaus stammte und deren Großvater Viktor, der jüngere Bruder meines Großvaters Tomáš war. Dann hat man mir jenes Anwesen, wo er geboren war, gezeigt. Es sah wirklich so aus, wie ich es oben beschrieben habe, wofür ich hier Frau Vlasta danke.

Der lebhafte und lustige Tomáš gefiel der Boženka und die Boženka gefiel dem Tomáš. Immer häufiger trafen sie sich auch außerhalb von Tanzfesten. Und es geschah, wie es so oft passiert, dass die schöne braunäugige Boženka in August 1920 in andere Umstände kam. Zu dieser Zeit war es für ein lediges Mädchen und ihre Familie keine leichte Sache. Die Ansichten der Leute waren streng und für ein Dorfmädchen waren die Folgen oft schwer. Zu alledem zeigte Tomáš keine große Freude, als er über die Schwangerschaft erfuhr. Für eine rechtzeitige Heirat hatte er keine Lust, obwohl er selber nicht mehr der Jüngste war. Zu der Zeit war er 30 Jahre alt, dachte aber trotzdem, dass er noch nicht genügend Freuden erlebte, die das Leben einem jungen Menschen bieten kann. Und so begannen für Boženka, bis anhin ein lustiges und unbeschwertes Mädchen, traurige und schwere Zeiten. Sie war damals 23jährig. Die Mutter Marie war eine tapfere Frau, die die Nachricht über die Schwangerschaft ruhig aufnahm, wissend, dass Boženka Unterstützung der ganzen Familie für gutes Gedeihen des neuen Lebens in ihrem Körper braucht.

Im Gegensatz dazu reagierte Vater Václav anders. Obwohl er selber bislang ein wenig leichtsinnig und ein lustiger Geselle war, plötzlich störte ihn sehr, was die Leute im Dorf sagen werden, und das es eine Schmach für die Hynek Familie bringt. Er ließ es Boženka gehörend fühlen. Sie durfte nicht am Esstisch sitzen, musste sich vor dem Vater in der Getreide - Scheune verstecken, wohin ihr die Geschwister das Essen brachten. Am traurigsten war, dass sich die seelische Qual, die Boženka durchlebte, auch auf das beginnende Leben in ihrem jungen Körper übertrug.  In wie fern das Leid das künftige Leben des Kindes von Boženka beeinflusste ist schwer abzuschätzen, aber fast sicher, nach heutigen Erkenntnissen, gilt, dass es Einwirkungen gibt.

Der Mensch- das Kind anspruchsvoller Natur?


 Welchen seelischen Schmerz eine junge Frau in der Zeit erlebte, kann man sich nur denken. Leider waren die Leute ihrer Umgebung nur zu leicht bereit, sie zu verurteilen. Sie hätten aber, wegen dem beginnenden Leben, Menschlichkeit und mehr Zartgefühl zeigen sollten. Wer kann dafür? Sofort wurde fast bei allen der jungen Frau die Schuld gegeben. (Hugo, der spätere Mann des ungeborenen Kindes fragte sich oft, ist überhaupt jemand schuldig?) Die Natur ist stark und fordert und stellt Ansprüche, und die Menschen sind ihre Kinder,  soll es einem gefallen oder nicht. Wenn jemand schuldig sein könnte, sollte man den Fehler eher beim männlichen Geschlecht suchen. Der Mann kann durch sein Handeln und hauptsächlich durch seine Rücksicht zu seinem Mädchen, das er vermutlich in dem Augenblick liebt, spätere unbeliebte Schwierigkeiten und seelisches Leid verhindern, indem er währen der schönen Momente sich wohlwollend verhält, um unerwünschte Schwangerschaften zu verhindern.

Trotz widriger Umstände hat Boženka und ihr Kind die nötige Zeit bis zur Geburt glücklich überstanden und am 28. Mai 1921 kam ein herziges Mädchen zur Welt, dem man bei der Taufe den Namen Vlasta gab.

Die Interpretation der historischen Vlasta (Wlasta)

Ich vermute, dass die Familien Hynek und Lehovec entschieden, ihr den traditionellen tschechischen Namen Vlasta zu geben, weil sie eine emotionale Beziehung zu den tschechischen historischen Legenden und Sagen hatten. Ich weiß aber nicht, ob sie beabsichtigten den ursprünglichen Charakter der Kämpferin Vlasta mit den Eigenschaften des kleinen Mädchens zu verbinden, die sich erst entwickeln mussten. Eher nehme ich an, dass so eine Absicht in der Namenswahl nicht bestand. Wie mancher sicher weiß, kommt der Name Vlasta nicht nur in den Alten tschechischen Sagen vor, niedergeschrieben durch den tschechischen Schriftsteller Alois Jirásek, sondern auch im Schauspiel des österreichischen Dramatikers Franz Grillparzer. Bei  Jirásek war Vlasta Anführerin rebellierender Frauen, die gegen die Vorherrschaft der Männer im sogenannten Mädchenkrieg kämpften. Zu dieser unseligen Verwicklung kam es unglücklicherweise nach dem Tod der Fürstin Libuše (Libussa), gerade durch Vermittlung von Vlasta, weil sie beklagte, dass die Frauen nach Abgang der großen Fürstin ihr Ansehen verloren haben. Grillparzer beschrieb “Wlasta“ noch als treue Dienrin von Libuše – genannt auf Deutsch „Libussa,“ in seinem gleichnamigen Theaterstück. Im Spiel verteidigte sie die  prophetischen Fähigkeiten von Libussa vor der Voreingenommenheit vom Fürsten Přemysl (Primislaus) und seiner Edelleute. Jirásek und Grillparzer hatten durchaus eine abweichende Meinung über die prophetische Methode von Libussa. Der Erste betonte den prophetische Geist, hervorgerufen durch Schauen in das fließende Wasser des Flusses Moldau, der zweite beschrieb durch Libussa verwendete narkotische Pflanzen, die in die Nachtschattengewächse (Solanaceae) gehören, z.B. Stechapfel oder Bilsenkraut.

Es wäre interessant, hier einen kurzen Vergleich zu konstruieren. Grillparzer zeigte in seiner Schilderung der Libussa Orakel über die Zukunft interessantere Beziehung zur heutigen Zeit (beschreibend innere Verfassung der Leute, wie den Verlust von moralischen Werten und Idealen). Hingegen bei Jirásek findet man mehr externe Geschehnisse wie Blutvergießen und Brandschatzung. Grillparzers Version der Zukunft scheint für die heutige Zeit fast mehr zutreffend, obwohl Jirásek auch nicht ganz daneben lag. Für mich war es auch ein bisschen überraschend, dass sich in früheren Zeiten die deutschreibenden Autoren so lebhaft für tschechische Geschichte und Legenden interessierten. Bekannt ist z. B. auch ein dramatisches Gedicht von Karl Egon Ebert über die Wlasta, der ein Ritter und Dichter war und in Böhmen lebte. Er nannte es “Wlasta: Böhmisch-nationales Heldengedicht in drey Büchern.“ Bei Ebert erfuhr ich auch, dass der Name Wlasta von dem Wort Wlastislava abgeleitet ist, was ein Hinweis auf das Loben der Heimat ist. Der Autor lebte lange in Böhmen, und, aus welchen auch Gründen, kannte sich gut aus in der Mentalität tschechischer Frauen, weil er ihre Seelen in schöner und bezaubernder Lyrik beschrieb.
Interessant war auch der gewählte Name für Vlastas jüngeren Bruder Břetislav, den ich zuerst überhaupt nicht verstand, aber dann, nach einer Recherche, herausfand, dass er vom altslawischen Wort „břečet“ stammt, dessen Bedeutung man als Kriegsgeschrei oder zelebrierendes kämpferisches Gekreische verstehen kann.

Als Tomáš Lehovec seine kleine, schmucke Tochter mit schönen großen, dunkel - braunen Augen sah, nahm er sie sofort in sein Herz auf, das doch ein Herz eines guten Menschen war, in welches viel Liebe hineinpasste. Und so, trotz Nöte und Leid, wendete sich alles zum Guten und die Gründung einer neuen Familie wurde bald Wirklichkeit. Das junge Paar schloss die Ehe am 20. August 1921 in Prag 8, auf Žižkov (Zischkow – Zischkaberg). Die junge Familie lebte vorläufig bei den Eltern von Boženka in Svĕtice Nr. 7. Tomáš war ein gelernter Mechaniker und Maschinenwärter und arbeitete damals bei der angesehenen Prager Firma „Anton Vondřich,“ in Prag – Karlín (Karolinenthal), die im ganzen Land bekannten Velozipeds und sehr leichte Rennfahrräder Marke AVON herstellte. Tomáš absolvierte bei dieser Firma zuerst seine Lehre und dann wurde er daselbst zu einem Werkmeister. Bei den Hyneks zu wohnen war für die Familie vorteilhaft. Tomáš hatte es nahe zur Haltestelle der Eisenbahn, von wo er täglich zur Arbeit fuhr. Alles verlief gut, Tomáš war bei der Firma beliebt wegen seiner guten Wesensart und seinem Fleiß, und verdiente anständiges Geld. Boženka ergänzte sinnvoll ihren Mann durch ihre Bedächtigkeit und Denkfähigkeit. Ihre Sparsamkeit ermöglichte ihnen Geld auf die Seite zu legen, um später ein unabhängiges Leben der Familie bei Bauernarbeit auf eigenem Anwesen und auf eigenem Grund und Boden zu führen, wie das der Wunsch beider Eltern von Vlastička von Anfang ihrer Ehe schon immer gewesen war. Die bäuerlichen Wurzeln von ihnen beiden konnten sie wohl nie ableugnen. 

Wie Vlastička den Opa Wenzel (Václav) bezauberte


Vlastička hatte von Anfang an Glück, seit ihrer Geburt konnte sie bei den Hyneks in einer schönen familiären Atmosphäre aufwachsen. Auch die umliegende prächtige Natur in Svĕtice trug zu diesem Glückszustand bei. Die tiefen Wälder, die gleich hinter dem Dorf begannen, hatte Vlasta lieb gewonnen, als sie anfing mit dem Großvater, Václav Hynek, in ihnen Pilze zu sammeln. Das Herumstreichen durch‘s Gehölz und Suchen nach Schwämmen, die Vlasta von ihrem „děde“ (Opa) so unfehlbar kannte, war seit ihrer frühen Kindheit die Liebe ihres Lebens. Der Vater von Boženka, Václav, der sich während ihrer Schwangerschaft so schlecht benahm, hat sich gottlob nach der Geburt von Vlastička völlig verändert, und nahm das kleine neugeboren Mädchen in sein Herz auf. Und so ist zwischen der heranwachsenden Vlastička und ihrem Opa Václav eine große Liebe gewachsen, wie es oft zwischen der Enkelin und dem Großpapa entsteht. Sobald konnte Václav in seiner Bauernwirtschaft nur etwas Freizeit nehmen, widmete er sich vor allem seiner kleinen Enkelin, und sie vergötterte ihn dafür. Sie waren viel zusammen auch nachdem, die Familie Lehovec eine eigene Landwirtschaft gründete. Aber Vlasta hatte auf ihren Opa auch einen guten Einfluss. Der Großvater Václav vergaß nämlich völlig seine Wirtshausfreunde und frequentierte die Kneipen nicht mehr. Diese Tatsache wurde mit stiller Genugtuung auch von der Großmutter Marie quittiert. Und es war wie wenn die Ankunft von Vlasta in die Familie Hynek ein gewisses Licht des Friedens und Behaglichkeit brachte. Je mehr Vlastička heranwuchs und sich entwickelte, desto mehr zeigte sich ihre fröhliche und gute Wesensart; auch ihre ganze Erscheinung war angenehm und anziehend.  Nach ihrer Mutter Boženka ererbte sie offenbar die Klugheit und Bedächtigkeit, nach ihrem Vater Tomáš dann seine Zähigkeit und arbeitsamen Fleiß. Das alles zeigte sich aber erst später, während ihres Aufwachsens und Reife. Bei den Hyneks genoss Vlasta mit großer Freude ihre Frühkindheit, und sobald sie zu sprechen und laufen begann, war sie wie der Wind, so dass sich Opa Václav meist nur nach ihr drehen musste, und auch wollte. Sobald er frei hatte, unternahm er etwas mit seiner Enkelin und für Unternehmung gab es damals in Svĕtice viel Gelegenheit. Manchmal vernachlässigte dadurch der Großvater seine Arbeit auf dem Bauernhof, was milde Missstimmung bei den anderer verursachte; allerdings brachte das lebhafte Mädchen in die Familie so viel Freude und Veränderung, dass sich jede Missbilligung bald in Billigung verwandelte und Václav sich seinem kleinem Prachtmädel weiterhin widmen konnte, weil jemand die anfallende Arbeit für ihn erledigte. In der Landwirtschaft gibt es viel Gelegenheit, wie man das Leben kennenlernen kann, und da sich Vlasta dafür interessierte, begann sie alles bald voll zu erkennen, und es ist ihr beinahe nichts entgangen.

Auf dem Familienanwesen gab es viel zu sehen, große Bauten mit großen Räumen, Speicher und Estriche unter den Dächern, wo man Getreide lagerte. Ein großer Speicher, den man auf Tschechisch „Špejchar“ nannte, war auch im großen Stadel, der unter dem Wohngebäude, in einer Entfernung von etwa 30 Metern, auf einem leichten Abhang stand. Hier lagerte hauptsächlich trockenes Viehfutter für den Winter. Nach und nach, wie unser Mädchen aufwuchs, machte sie sich mit alledem selber bekannt. Immer gab es etwa zu entdecken. Das Leben läuft auf dem Lande schneller, Kinder werden früher reif, als in der Stadt. Da es viel Arbeit gibt, können sich die Erwachsenen dem Nachwuchs nicht so viel widmen, die Jugend ist auf sich gestellt. Als Vlasta ein Jahr und ein Monat alt war, gab Boženka in Juni 1922 einem Sohn das Leben, dem man den Namen Břetislav gab. Die Familie von Tomáš ist um ein weiteres Mitglied größer geworden, zur allgemeinen Freude von allen. Dadurch lebten jetzt auf dem Hynek Anwesen sieben erwachsene Personen und zwei Kinder. Boženka und Tomáš begannen immer mehr darüber nachzudenken, wie sie einen eigenen Haushalt in einem eigenen Haus gründen könnten. Vorläufig, solange sie bei den Hyneks wohnten, fühlten sie sich aber gut und gut war auch ihr Auskommen mit den anderen. Man weiß nicht genau, wann sich die Lehovecs entschieden aus dem Hynek-Haus wegzuziehen, vielleicht zwischen den Jahren 1922-25. Vlasta war damals vielleicht 2-5 Jahre alt. Sie hat es mir, Hugo, ihrem späterem Ehemann, nie gesagt, oder ich habe es leider vergessen, möglicherweise hatte ich es bleiben lassen, meine „Vlastina“ zu fragen, als sie mir über das alles, über ihre Jugend, über die Hyneks, die Lehovecs, in den stillen gemeinsamen Stunden unseres Lebens, mit ihrer klingenden klaren Stimme, erzählte.  Es geschah meisten in den schönen Augenblicken unseres Sinnierens über das gemeinsame Leben. In ihrem Erzählen kehrte sie sehr gerne in ihre frühe Kindheit zurück und erinnerte sich mit Liebe der schönen, vergangenen Zeiten mit ihrem „dĕda“ (Opa)Václav. Er war willig, für sie immer, alles zu tun. Auch später, als Boženka und Tomáš und die Kinder nicht mehr bei den Hyneks lebten, besuchte Vlasta oft ihre Ureltern, Tanten und Onkel in Svĕtice.
Mit einem Lachen und Reminiszenz in den Augen erzählte mir Vlastička, wie Großpapa oft die Rosse anschirrte und vor einen Pritschenwagen einspannte; Vlasta setzte sich neben ihm auf dem Kutschbock, der Opa schnallte die Peitsche und schon fuhr man in das Städtchen Říčany (Ritschan). In Říčany auf dem Ring war immer etwas los. Mindestens einmal pro Woche war dort der Markt. Da verkauften die Bauern ihre Erzeugnisse und die vielen Krämer beinahe alle kleinen Sachen des Lebensbedarfs. Auf dem Platz waren einige Läden um alle Bedürfnisse der Landbevölkerung zu decken und selbstverständlich auch einige Wirtshäuser, wo Leute von Říčany und Menschen aus den umliegenden Dörfern zum gemeinsamen Erzählen aus ihren Leben, und über Sorgen und Freuden ihrer Familien und Nachbarn, zusammen kamen.

Dĕda mit Vlasta hielten gewöhnlich vor dem Metzgerladen an der Ecke an, wo es schon von weitem nach frischen Wurstwaren duftete, bis einem das Wasser im Mund zusammenlief, und auch immer deswegen lebhafter Betrieb herrschte. Dĕda Václav band die Pferde mit dem Wagen zum Geländer vor dem Metzgerladen, befestigte am Hals der Rösser Beutel mit Hafer und duftendem Heu, und betrat mit Vlasta den Laden, wo sie beide als alte Bekannte von den Anwesenden mit Jubel begrüßt wurden. Der Metzgerladen auf dem Platz in Říčany wurde damals neu errichtet in einem Neubau. Das Haus gehörte einer bekannten Familie, die auch die Fleischerei und Selcherei führte. Die Familie des Metzgers war in der Umgebung bekannt, er schlachtete die Nutztiere der Bauern und stellte eigene Räucher- und Wurstwaren her. Vlasta erzählte oft über ihre Erlebnisse im Metzgerladen, die für sie immer angenehm waren, sie nannte auch den Namen der Familie, den ich (Hugo) jedoch irgendwie vergessen habe. Sollte ich mich erinnern, sicher werde ich euch den Namen des Metzgers mitteilen, sicher tut es euch interessieren. Ich glaube, dass die Nachkommen heute noch in Říčany leben und dass sie gleich wie die Hyneks und Lehovecs zu der Geschichte dieser Gegend gehören. (Im letzten Abschnitt dieses Buches, Dem spätem Gespräch aus dem Jahr 1994 mit der gealterten Vlastička ist der Name der Familie nochmals erwähnt durch die Erzählerin selber. Wir wissen deshalb, dass es Familie Šístkovi (Schistek) war, die der verheirateten Schwester Opas Václav gehörte.)    

Jener Metzgerladen duftete und strahlte mit Sauberkeit und einige Tischlein und Stühle lockten zum Hinsetzten und zur guten Mahlzeit. Neben Bedienung waren im Laden immer einige Kunden, meistens bekannte Leute von Říčany oder Umgebung. Nach kurzer Unterhaltung folgte für Vlasta die angenehme Zeit der Auswahl von Speisen und der Opa gönnte ihr alles auf was sie Lust hatte. Die Wurstwaren und Fleisch waren säuberlich und schmackhaft ausgestellt hinter Schutzglas zum Anschauen und Auswahl. Nach der Wahl der Speisen setzten sich Großvater Václav und Vlasta zu einem der Tischen und es begann für sie beide ein unvergesslicher Schmaus. Dann bestellte der Alte zum Essen das nötige Trinken, für sich ein Bier für die Kleine gewöhnlich eine Limonade. Das alles war für Vlastička, die damals ein kleines Vorschulmädchen war, eine äußerst angenehme Erfahrung, an die sie sich später oft und gern erinnerte. Während des Mahls plauderten die Anwesenden über alles Mögliche, so dass alle die neusten Ereignisse aus Říčany und der umliegenden Dörfer erfuhren. Nach der Beendung des Mahls war der Ausflug nach Říčany bei weitem noch nicht fertig. Es begann ein nicht weniger interessanter Teil der Reise, eine Besichtigung des Markts auf dem Platz, ein Spaziergang durch das Städtchen Říčany und sich wiederholende kurze und längere Gespräche mit bekannten  Leuten und Verwandten, deren dort einige lebten, die  sich fast immer auf dem Marktplatz vorgefunden haben. Wenn Vlastička auf dem Markt oder in den Geschäften auf dem Platz etwas gefallen hat, kaufte es ihr selbstverständlich Großvater Václav. Es konnte eine Art Süßigkeit oder etwas für den täglichen Gebrauch des kleinen Mädchen sein.  Als nach einer längeren Zeit der  Großvater und sein kleines Mädchen müde wurden, begann die Zeit der Rückkehr nach Světice. Die Karosse mit dem Pferd war immer bei der Kirche angebunden und das Pferd wartete geduldig, beruhigt mit Hafer und Heu, auf seinen Meister. Dann setzten sie sich auf den Sitz, beide mit guter Laune und einer Menge neuer Nachrichten für die Erzählung zu Hause in der Familie Hynků, aus Světic. Die Ausflüge nach Říčany und die Umgebung fanden aber nur im Frühjahr und im Sommer statt, während warmer und langer Tage und so kam es manchmal vor, dass die Rückreise erst am Nachmittag oder am frühen Abend stattfand, vor allem wenn unser Mädchen und ihr Großvater in Ritschan mit fröhlicher Gesellschaf bekannter Menschen zusammenstießen.  Und warum nicht, es war angenehm warm, die Sonne hat wunderbar geschienen und man hatte keine Lust nach Hause zu eilen. Dennoch bei späterer Rückkehr war die Stimmung unserer Reisenden zwar gut, aber doch ein wenig durch die Befürchtung gedämpft, was dem langen Ganztagesausflug die strenge Großmutter Hynek sagt. Gerade  im Frühling und Sommer war es doch nötig, dass jeder in der Landwirtschaft die Hand zur Arbeit anlegte, insbesondere brauchte man die Hände des Hausherrn, den Opa Wenzel damals darstellte, aber auch die Hände unseres Mädels, als es schon etwas gewachsen war. Es konnte das Geflügel füttern, im Haushalt etwas helfen, Obst sammeln, das Gemüse im Garten holen. Irgendeine Arbeit hat sich für Vlastina (freundlicher Spitzname für Vlasta) immer gefunden, aber sie hat sie immer gern ausgeführt, weil das Mädchen von klein an arbeitsam war. Und so, als sie sich dem Holztor des Guts der Hyneks näherten, schauten unsere Zwei, ob die Großmutter Maria nicht schon vor der Pforte steht, damit sie sie gebührlich begrüßt. Aber schlussendlich ist alles gut ausgegangen, Großvater Wenzel hatte immer etwas dabei für seine Maria, sei es etwas Gutes zum Essen, ein Kleidungsstück, oder aber eine andere passende Kleinigkeit. Auch wenn die Großmutter am Anfang eine ernste Miene zeigte und etwas schimpfte, setzte sie schnell einen milden Ton an, auch wegen der kleinen Vlasta, deren Freude wegen schönem Erlebnis, die auf ihren Bäckchen und im Seelchen strahlte, sie nicht verderben wollte. Die Oma hat sie schlussendlich daheim willkommen geheißen, half die Rosse abzuschirren und die Kutsche in den Stadel reinzuziehen. Bereits bei Gang zum Wohnhaus begann sie mit dem Ausfragen der Neuigkeiten, wen sie den in Ritschan getroffen hätten, mit wem sie sich den unterhalten haben. Und so traten unsere zwei Rückkehrer in die große Küche, wo bereits andere Familienangehörige versammelt waren, insbesondere, wenn es am Abend war.  Nach Empfang und Begrüßung fielen hie und da einige Bemerkungen von den Anderen, dass der Opa und sein Mädel nur in ganzer Weltgeschichte herumreisen, obwohl es zuhause überall einen Haufen Arbeit gibt, und unser Mädel den Großvater um den Finger wickelt, sodass er für sie sogar den Stadel verkaufen würde. Beißende Bemerkungen waren aber  nur halbernst gemeint, vielmehr nur um lachen zu können, als man sich am langen Tisch aus Eichenholz niedersetzte, um das gemeinsame Abendessen zu genießen. Alle aßen mit Appetit währen unsere zwei Weltenbummler unentwegt erzählten, was sie während des Ausflugs erlebten, was durch ständige Rückfragen der Zuhörer quittiert wurde. Die Abendstunde floss angenehm und unterhaltend dahin, draußen wurde es mittlerweile dunkel, sodass einige der Anwesenden bereits dahin dösten. Alle waren  müde, unsere Zwei wegen ihrer Reise, die anderen durch die Arbeit des ganzen Tages, sodass einer nach dem anderen sich unauffällig verzog, um in die Heia zu gehen. Mami Boženka beaufsichtigte noch, damit sich Vlasta und Břetislav ordentlich wuschen, die Zähne putzten und dann hopp ins Nest. Vlastička wickelte sich angenehm in die weiche Daunendecke ein, dachte noch kurz über den Ausflug nach, und schlief im Nu ein.   

Abfahrt nach Katharina Dorf ins neue Heim


Die Zeit verging, Vlasta erreichte inzwischen das Alter von 4-5 Jahren, ich weiß es nicht genau, und die Familie von Tomáš Lehovec schickte sich an, ins eigene Heim und weg von den Hyneks zu gehen. Nach längerem Suchen fanden sie in der Nähe von Prag, im Dörflein Kateřinky (Katharina Dorf), einen kleineren landwirtschaftlichen Betrieb, von 8-10 Hektar Größe der Ländereien, und dazu noch ein Wirtshaus. Das Gebäude trug den Hausnummernschild mit der Zahl Elf. (Ich erfuhr erst viel, viel später, dass es eine Schicksalszahl ist. Wahrlich kann man das aber aus den späteren Geschicken ihrer Bewohner annehmen. Es soll eine Meisterzahl und eine Schwingungszahl sein. Tatsächlich hat Tomáš seinen Betrieb trotzt Widerstände gemeistert, wenn auch er am Ende seinem Schicksal unterlag.) Die Lehovecs hatten vor, die Dorf Beiz weiter zu führen und so ihr Einkommen zu verbessern, was ihnen während folgender Lebensjahre immer gelang. Lokale Einwohner, als auch Leute von umliegenden Dörfern, kamen gerne in die Lehovec Kneipe, sogar auch unter der Woche. An Samstagen und Sonntagen war es dann in der Lehovec Schenke vollgestopft und, wie ich selber später erlebte, es spielten oft einige Musikanten, die Unterhaltung floss lustig daher und vielfach gab es auch Tanz.

Der künftige Schenkwirt in Katharina Dorf mit Spitznamen Haselhuhn


Tomáš Lehovec war als Kneipier, oder Schankwirt, wie man dazumal mehrheitlich sagte, bei allen Besuchern der Kneipe, wegen seinem lustigen Naturell und seiner Spaßmacherei, sehr beliebt.  

Sein Äußeres war sauber, er pflegte einen dunklen Anzug mit Weste und einer Kette für die Uhr in der Westentasche zu tragen. Er hatte Schnurbart, dunkle Haare waren leicht gewellt und für diese Attribute und sein fröhliches Wesen gab man ihn halb odiös halb spaßend den Beinamen Haselhuhn. Erst ein halbes Jahrhundert später vergegenwärtigte ich mir, als ich nach langer Zeit wieder den Film (die deutsche Version) mit dem bekannten Schauspieler, V. Burian, „Unter Geschäftsaufsicht“ und die Gestalt des temperamentvollen Komikers sah, meinen Großvater Tomáš wieder.

Die ganze Familie bereitete sich langsam auf den Umzug in das neue Heim vor. Eines schönen Tages war dann alles vorbereitet. Im welchen Jahre, zu welcher Jahreszeit, am welchen Tag es war, weiß ich aber leider nicht mehr. Ich glaube, dass es mir Vlasta sagte, aber ich habe es leider Gottes vergessen. Intuitiv vermute ich aber, dass die Lehovecs irgendwann im Frühling von Heiligen nach Katharina, in der ersten Hälfte der Zwanzigerjahre, gezügelt sind. Die von Lehovecs gekauften Gebäuden, bestanden aus mehreren kleineren, niedrigen Häusern, die aneinander grenzten. Wer damals in die Richtung nach Újezd (Aujest) ging, hatte auf der linken Seite gleich am Wegrand zuerst das Wirtshaus mit Eingang direkt von der Straße. Das Haus wo die Beiz war hatte drei Räume. Die eigentliche Gaststätte bildete ein größerer Saal mit Fläche von etwa 8x8 Meter, mit Bierschenke, geziert durch ein paar einfache ornamentierterTische und gewundene Stühle, einem Zinktresen, von wo das Bier verteilt wurde, und einem großen verglasten und ziemlich schönen Schrank. Hinter dem Tresen, der im hinteren Teil des Raumes stand, war Eingang in einen Getränkekeller, wo man Bierfässer lagerte, wo die angezapften Fässer mit Zinkröhren verbunden waren, aus denen die begehrte Flüssigkeit ausgeschenkt wurde. (Im besagten Keller waren auch große Bottiche, gefüllt mi Eis, wo immer mehrere Flaschen mit Limonaden verschiedener Farben  - rot, grün und gelb - gelagert wurden. Als ich noch ziemlich kleiner Knirps war, vielleicht vier oder fünfjährig, weiß ich noch, dass mich ältere Dorfbuben manchmal überredet haben, ihnen Limonade gratis zu holen, was ich in meiner kindlichen Naivität tat, wonach ich dann zuweilen von Mamma zu Rede gestellt wurde.) Die Einrichtung der Schankstube war einfach, wie es damals auf dem Lande Gebrauch war. Die einzige Dekoration des Raumes war ein Bild an der Wand linkerhand. Drauf urinierte ein kleiner Bub in einen Bach und darunter war eine Inschrift: „Trinke nie Wasser.“ Es war schon damals eine wirksame Werbung, um Bier überall, wo nur irgendwie möglich, zu trinken. Wenn ein Besucher in den Ausschank trat, hatte er rechterhand in der hinteren Saalecke den Kücheneingang, wo später, während der Lehovec Zeit, die ganze Familie zusammenkam und wo Boženka herrschte.  Stand ein Gast in der Küchentür, erblickte er in der Küche rechts einen großen Kochherd mit einer breiten Ofenplatte für Haushalts- und Wirtshauskochen, darunter heizte man mit Holz und im Winter mit Kohle. In der Küchenwand rechts hinter dem Ofen war die Tür in den dritten Raum. Es war ein schönes, längliches Zimmer mit etwa 18 Quadratmeter Fläche. Sein Fenster führte in die Richtung der Straße. Jenes Zimmer wurde für mich später ein Lieblingsort, weil es Vlastička gehörte.  Gegenüber ihm war eine andere Tür aus der Küche auf einen kleinen Hof, ca. 5 x 10 Meter. Auf der Gegenseite der Küche befanden sich ein Pferdestall für ein paar Gäule und rechterhand dahinter dann ein Kuhstall für 6 bis 8 Rinder. Wenn der Gast aus der Küche auf den Vorplatz trat und nach rechts abbog, hatte er vor sich in ungefähr zehn Metern Entfernung das sog. hintere Häuschen mit seiner Pforte. Auf seiner rechten Seite, an der Wand, war ein gemauertes Pissoir für die Beizgäste. Das war aber nicht gerade vorteilhaft, weil jeder Besucher, der zur Bedürfnisanstalt wollte, durch die Küche, den Hof und zurück, gehen musste. Und so nahm es mit dem Herumschleichen der Biertrinker kein Ende. Und wie alle sicher wissen, machen die Zecher nichts anderes als Schwatzen, Biertrinken und das Örtchen frequentieren, wo die große Menge der getrunkenen Flüssigkeit wieder ausgeschieden werden muss. Ach, ihre armen Nieren!
Der Hof setzte sich rechtwinklig fort um die Hinterwand des Hauses (in dem die Beiz, der Bierkeller, die Küche und das Zimmer von Vlasta war) zur Straße und endete bei großem Holztor, wodurch man wieder zum Weg gelangen konnte, der von Chodov durch Kateřinky nach Újezd u Průhonic führte. Wenn der Besucher durch den Eingangstor des hinteren Hauses eintrat, geriet er in einen Korridor von etwa 12 Meter Länge und zwei Meter Breite. Auf der rechten Seite des Ganges waren Türen in zwei Zimmer, die hintereinander lagen, mit Fenstern gegen die Straße. Das zweite Zimmer hatte noch ein Fenster, das zum hintern Hof mit einem Garten führte. Der Korridor endete ebenfalls mit einer Holzpforte, durch die man in den Garten eintrat. Auf der linken Korridorseite waren zuerst ein Stall für ungefähr weitere sechs Kühe und dahinter ein kleinerer Stall für Schweine und Geflügel. Der hintere Hofgarten mit einem Brunnen in der Mitte war  geschätzter weise 15 x 25 Meter groß. Auf der rechten Seite entlang der Straße und vorne, entlang des Feldweges, der zum Wald verlief, war der Hofgarten etwa zwei Meter hoch umzäunt. Links endete die Parzelle mit einer höheren Mauer, hinter welcher sich der Obstgarten des Nachbarn, Herrn Šťastný (Herrn Glücklich) befand. Gegenüber dem Gasthaus, auf der anderen Straßenseite, war ein anderer großer Hofgarten mit ein paar Bäumen. Er war ca. 40 x 40 Metern groß, umzäunt, dazu stand in seinem hinteren Teil etwa 20 Meter von der Straße entfernt ein großer Stadel.  Zwischen der Straße und dem Stadel war rechterhand ein Brunnen. Ich denk, er ist dort noch heute.  In Gedanken sehe ich meine Vlastina, so wie ich sie als Erwachsene in der Mitte des Jahres 1941 kennenlernte, in ihren Zwanzigern, als sie sehr, sehr viel und sehr oft Wasser tragen musste, in zwei Blechkübeln von 15 Litern Inhalt, in die Ställe für die Pferde und das andere Vieh.  Sie rannte unzählige Male über die Straße mit den leeren Eimern zu jenem Brunnen, pumpte sie voll von Wasser, und kehrte, lastbeladen und langsamer, mit vollen und schweren Behältern zu den Haustieren zurück. Die ganzen Jahre, während derer ich Vlasta besuchte, geschah es auf diese Weise. Trotz Tatsache, dass in dem Lehovec Haushalt damals drei gesunde Männer waren, Vater, Sohn und Knecht Adam aus der Slowakei, musste diese unerhörte Schinderei, ich sage nicht immer, aber sehr oft, meine Vlastička und manchmal auch ihre Mutter Boženka leisten.  Die Männer sind einfach Schlaumeier. Als ich anwesend war, habe ich mehrheitlich die dumme Plackerei von Vlastička übernommen und, ich kann euch sagen, obwohl ich kein Schwächling war, ich hatte, nachdem ich die nötige Wassermenge den Tieren gebracht habe, die Schnauze gestrichen voll. Ich glaube, dass ich damals vorgeschlagen habe, einen sauberen Wasserwagen beim Brunnen zu füllen und ihn dann über die Straße auf den Hinterhof in die Stallnähe oder auf den Platz vor der Küche zu ziehen. Das hätte den Weg mit vollen Eimern zu den Tieren und ihren Wassertrögen wesentlich verkürzt. Es wäre auch möglich gewesen das Wasser direkt vom Brunnen mit einem geeigneten Wasserschlauch zu leiten. Es hätte funktionieren können, hätte man den Wasserwagen etwas nach oben gehievt und seine Räder mit Blöcken unterlegt. Leider wurde es nie realisiert, mein Vorschlag ist ins Leere gefallen und man hat weiter nach der alten Art und Weise gekrampft. Mithin, auf dem Lande pflegte man damals so zu tun.
Die große Scheune hatte auf der Vorder- und Hinterseite ein riesiges Holztorportal,  das ermöglichte mit einem Erntewagen hinein zu fahren, der hochbeladen mit Getreide war. Bei der Kornernte wurde dort auch eine große Dreschmaschine oft platziert. Durch das hintere Portal wurde der leere Bretterwagen dann, nachdem sein Inhalt verdroschen wurde, hinausgeschoben und man fuhr erneut aufs Feld, um eine weitere Fuhre der Getreidegarben zu holen.  Nach der Hinterpforte der großen Scheune breitete sich ein Acker aus, von der Größe eines Hektars, der auch den Lehovec gehörte. Das Feld erstreckte sich südwärts, bis zur Grenze des Nachbardorfes Šeberov (Scheberau). Heute grenzt das längst enteignete und bebaute Grundstück mit der Autobahn A2. (Während meiner Kindheit in den Fünfzigerjahren war es aber nur eine verlassene Baustelle, die aus den Okkupationsjahren zurück blieb. Die Deutschen konnten den Bau nicht beenden.)
Ich beschrieb, etwas der Geschichte vorgreifend, das landwirtschaftliche Anwesen der Lehovecs, das Tomáš mit Boženka in den Zwanzigerjahren für sich und ihre Familie in Katharina Dorf bei Prag kauften, um dort ein neues Leben einer selbständigen Familie zu beginnen. Ihr Vorhaben von den Hyneks wegzuziehen rief zwar Verständnis im Dorf Heiligen, aber keine übersteigerte Begeisterung. Die ganze Hynek Familie hat sich inzwischen auf die fröhliche Vlasta und ihren jüngeren Bruder Břetislav und Vater Tomáš gewöhnt und nun war es etwas traurig, sich von ihnen wieder zu verabschieden. Am meisten litt Wenceslaus (Václav) Hynek, der die liebe Vlasta sehr mochte und sich mit der Idee ihrer Abreise nicht leicht anfreunden konnte. Die kleine Vlasta wiederholte immerwährend, dass sie nirgends umziehen wird und dass sie bei ihrem Großvater in Heiligen bei Hyneks bleiben wird, weil wenn sie weggehen müsste, das Leid ihr Herz brechen würde. Den Lehovecs sind also zu den Umsiedlungssorgen noch die Bedenken dazugekommen, wie unsere kleine Vlastička und ihren kleineren Bruder zu überzeugen, dass der Umzug nach Katharina nicht halb so schrecklich sein würde, wie sie es sich in ihrer Seele ausgemalt hätten. Man sagte: Das Katharina Dorf sei nicht so weit weg, mit Ross und Wagen sei man dort in einem halben Tag. Der Ort sei sehr nahe an Prag und man könne hinfahren, um schöne Klamotten zu kaufen. (Vlastička ist nämlich mittlerweile eine große Kleidchen-Liebhaberin geworden.) Sobald man einen freien Moment habe, spanne man die Pferde in den Landauer ein und hopp nach Heiligen. Selbstverständlich könne der Opa das Gleiche machen, nach Katharina herantraben und Vlastička für ein paar Tage abholen, um sie dann wieder zurückzubringen. Ich glaube, dass die abwechslungsreiche Reisemöglichkeit auf kleine Vlasta am meisten einwirkte, weil sie ihr erlaubte, sich alles in ihrer kindlichen Vorstellung mit lustigen Farben auszumalen. Und es ist tatsächlich später oft so passiert, dass der Opa mit Ross und Wagen herangefahren kam, wenn er lange Zeit nach Vlastička hatte, und sie nach Heiligen entführte. Wenn es aber während der Ernte passierte, wenn man sehr viel Arbeit hatte, war die Großmutter Maria nicht sehr begeistert, um es gutzuheißen. Opa Wenzel setze es aber dennoch immer durch. Am lustigsten dabei war, als der Opa unsere Vlasta zurück  nach Katharina  brachte, es manchmal passierte, dass er ihrem Bestürmen unterlag, um sie noch einmal mit sich nach Heiligen zu nehmen. Als dann Großmutter Marie auf ihn vor dem Hoftor der Hyneks gegen Abend wartete und neben Václav unsere kleine Göre auf dem Sitz hockend erblickte, rief sie angeblich aus: „Potz Blitz! Der Alte bringt das Mädel wieder zurück!“ Aber es ist eigentlich nichts passiert, weil sie nämlich bei den Hyneks alle das Mädchen sehr liebten.        

Umzug der Lehovecs nach Katharina Dorf


Dann kam der Tag des Umzugs von Boženka und ihrer Familie. In Katharina war alles vorbereitet. Alle Gebäuden waren sauber geputzt, alle Zimmer frischgemalt, alle Mauern und Dächer, alle Fenster und Türen, alle Tore und Schlösser repariert; die Estriche, Speicher und Keller gesäubert; also eine Menge Arbeit wurde bereits durch Boženka und Tomáš und angeheuerte Helfer geleistet. Es war der unveränderliche Wille des Vaters von Boženka, Václav, seine Tochter, ihre Familie und ihre ganze Habe, gemeinsam mit seinem Sohn Véna, mit seinen zwei Paar Pferden und zwei Lastwagen in ihr neues Heim zu zügeln. Und so ist es auch geschehen. In den damaligen Zeiten war es ein Brauch, dass die Lehovecs durch einen wesentlichen Teil der Dorfbewohner, und die meisten Nachbarn, verabschiedet wurden. Alle winkten ihnen bei der Abreise, als zwei vollgeladene Lastwagen den Hof verließen, durch das bekannte riesige Tor fuhren, und dann auf der Straße nach rechts abbogen in die Richtung nach Ritschan.  Auf dem Sitz des ersten Fuhrwerks saß unser Václav Hynek und neben ihm, wie könnte es anders sein, die kleine Vlastička zusammen mit ihrer Mutter Boženka. Das andere Fuhrwerk steuerte Vlastas Onkel, genannt Véna (obwohl er eigentlich Václav hieß). Neben ihm saß Tante  Franciska, genannt Fany oder Fanynka, zwischen ihnen kauerte dann der kleine Břetislav.  Die Großmutter Marie Hynek (tschechisch Hynková) kam nicht mit, jemand musste nämlich inzwischen die Landwirtschaft besorgen. Nun stand sie aber auch, wie schon oft, bei dem Tor mit Tränen in den Augen, winkte den Unseren und sagte ihnen Lebewohl. Hätte aber jemand Vater Tomáš auf den Fuhrwerken gesucht, wäre es sicher vergeblich, weil Tomáš schon einige Tage auf seinem Besitz verweilte, wo er alles nötige regelte und die letzten Gestaltungen zurechtrückte. Das was alle mit Befürchtungen erwarteten, dass sich Vlastička in Tränen auflösen wird, ist glücklicherweise nicht passiert. Das Abschiednehmen von den Hyneks, von ihrem Gehöft, und nicht zuletzt, von dem Dörfchen Heiligen, das sie so sehr liebte, verlief anders. Das Verlassen der Traumlandschaft mit ihrer magischen Umgebung, gekennzeichnet durch herrliche Wälder und Wiesen, kurzgesagt, des Ortes ihrer Geburt, wo sie einige wunderbaren Anfangsjahre durchlebte, erschien ihr wahrscheinlich nur kurzfristig. Sicher war Vlasta auf dem Wagensitz neben Opa und Mami etwas traurig. Sie winkte der Großmutter und rief ihr Lebewohl zu, aber es schien dass unser kleines Mädel mit allem versöhnt war und schon damals ein wenig den häufig unerbittlichen Lauf des Lebens begriff. Zu ihrer Ergebenheit trug sicher auch die gespannte Erwartung nächster Ereignisse bei, die die bevorstehende Reise nach Katharina Dorf betrafen. Also sind die zwei vollen Fuhrwerke mit Möbeln,  Hausrat und  anderen für den Haushalt nötigen Geräten und Einrichtungen aus dem Tor des Bauernhofs rausgefahren und begaben sich langsam auf den Weg auf der, aus vorheriger Erzählung, für uns schon bekannten Straße.  Damals, in den zwanziger Jahren, waren die meisten Straßen staubig, asphaltierte Oberflächen wurden erst hie und da, auf kurzen Strecken von seltenen Hauptstraßen, gelegt. Allmählich hat steigender Automobilverkehr eine Zunahme der asphaltierten oder betonierten Hauptstraßen verursacht.  

Der Geburtsort ist langsam am Horizont verschwunden und nach einer Weile erschien das Städchen Ritschan in Sicht und bald fuhren Opa Václav und Onkel Véna auf den Stadtplatz ein. Nach meiner Schätzung passierte es etwa um neun Uhr am Morgen. Die Sonne schien angenehm warm und unsere Reisenden und Umzügler verspürten bereits Durst und Lust auf etwas Gutes zum Essen, etwas vom Knochen, wie man dazumal zu sagen pflegte, und man vielleicht noch heute auf dem Land hüben und drüben in Böhmen sagt. Dann schnalzte noch der Opa kurz mit der Peitsche und bog ab, zur großen Freude der kleinen Vlasta und auch aller anderen, zur Metzgerei an der nördlichen Ecke des Platzes. Dann hielten beide hochbeladenen Fuhrwerke hintereinander vor dem Geschäft, alle stiegen vorsichtig ab, Großvater und Onkel banden die Pferde an, gaben ihnen Hafer und dann traten sie mit den anderen in den Fleischerladen. Ich will nicht behaupten, dass jedermann im Städtchen über den Umzug der Lehovecs wusste, aber aus dem Erzählten weiß ich, dass viele lokale Anwohner davon Kenntnis hatten und so war die Begrüßung an dem Tag besonders freundlich. Noch bevor sich die Ankömmlinge zur guten Erfrischung hingesetzt haben, entwickelte sich unter den Anwesenden ein belebtes Gespräch, zuerst über den neuen Lehovecs Wohnsitz. Jedermann war begreiflicherweise neugierig, wie es dort aussieht, ob die Gebäuden in gutem Zustand sind, wieviel Felder es hat, was für Ackerqualität es gibt, ob man genügend Wasser hat, usw.  Es ertönte auch die Stimme eines Anwesenden, der häufig durch Kateřinkami auf dem Weg zur Arbeit reiste, die Lehovecs Gebäuden von Ansicht kannte, über die er sich lobend äußerte, was verständlicherweise Boženka sehr erfreute. Während der Konversation sandten die Gesprächsteilnehmer Tomáš freundliche Grüße mit vielen Glückwünschen für das neue Leben an neuem Ort. Sie legten Boženka  aufs Herz, dass sie ihren Geburtsort und seine Leute nicht vergisst, und sobald es irgendwie möglich wird, sie nach Heiligen und Ritschan wiederkommt, was ihnen Boženka gerne versprach. Als es Vlasta hörte, war es ihr, wie wenn man ihr von der Kinderseele alle Sörglein weggeblasen und das Kinderherzchen gewärmt hätte. Alles war sofort lustiger. Während der Unterhaltung saßen alle gemütlich zusammen, erfrischten sich köstlich mit Speise und Trank, aber die Zeit blieb nicht stehen und Opa Václav zog immer öfter seine Uhr es der Tasche seiner schönen geblümten Weste, bis er schlagartig aufstand und forderte seine Leute auf mit den Worten: „Meine Lieben, wir haben noch einen langen Weg vor uns, wie sehr es mir auch leid tut, wir müssen aufbrechen.“ Und so verabschiedeten sich die Unsrigen von den Anwesenden, verließen den Metzgerladen, kletterten zurück auf die Kutschensitze, um die Reise fortzusetzen. Die Leute schwärmten aus auf den Platz, mitsamt Herrn Metzger und Familie, es gesellten sich dazu auch noch Leute aus der Umgebung, die Boženka, Václav und ihre Begleiter kannten, wobei eine schöne Menschenansammlung um beide Pferdegespanne entstand. Aber es nützte alles nichts, man musste den Abschied nehmen, ach Abschied nehmen (wie es in einem alten tschechischen Lied heißt).  Der Großvater schnalzte wieder über den Pferden mit der Peitsche und die Fuhrwerke begannen über den Platz zu rollen, zu seiner westlichen Seite, wohin die Straße zum Dorf Kuří (Kurschi) mündete. Letze Winke mit der Hand und der Ritschan Platz blieb weit zurück.  Es half nichts, einige Tränen glänzten dabei doch in den Augen von Vlastička und vielleicht auch Boženka. Das lustigste Männlein war zu der Zeit unser kleine, vielleicht vierjährige, Břetislav, der den Abschied keineswegs tragisch auffasste, sondern sich wegen der beginnenden langen Reise mit dem Pferdewagen freute, weil er schon damals Rosse mochte. Vater Tomáš machte ihn von klein auf mit den Zugtieren bekannt, setzte ihn sogar häufig auf ihren Rücken, so dass er jetzt den Pferdeausflug richtig genießen konnte, spürte den starken Pferdegeruch, der sich mit der frischen Vormittagsluft mischte, hörte dem Hufgeklapper und dem zeitweiligen Schnauben der schwitzenden Arbeitstiere zu. Kleinem Břetík (Diminutiv von Břetislav) ist nichts entgangen, er beobachtete die umliegende Natur: Wie schön die Vögelchen zeitweise zwitscherten, manche sogar sangen, wie das Gras in den Straßengräben entlang der Straße und auf den Feldern vor Feuchtigkeit in der Vormittagssonne glänzte; so mindestens stellte sich der wehmütige Schreiber dieser Zeilen, wie so ein kleiner Junge schöne Augenblicke seiner Kindheit erlebte. (Bedauerlicherweise hatte ich nie im Leben die Möglichkeit, persönlich meinen Onkel Břetislav zu fragen, als er schon ein erwachsener Mann war, ob er ähnliche Erinnerungen an diese denkwürdige Reise aus Heiligen hatte und ob sie so nostalgisch waren, wie es hier fast dichterisch mein Vater ausdrückte, der Schreiber dieser Gedanken.) Břéťa (Diminutiv von Břetislav)  saß eingequetscht zwischen Tante Fanynka und Onkel Véna, der die Zügel und die Peitsche hielt. Er musste sich nicht viel um die Pferde kümmern, sie sind von alleine hinter dem Fuhrwerk von Václav gegangen, das sie in kurzer Entfernung voranführte. Man benutze dazumal die linke Straßenseite. Die Reise schleppte sich langsam, aber die Entfernung verkürzte sich dennoch allmählich. Inzwischen legten sie etwa 3 Kilometer zurück, als sie begannen den steilen Abhang zum Dorf Kuří hinunter zu fahren. Václav und Véna mussten vorsichtig bremsen, um die zwei Paar Rosse zu führen, aber es ist alles gut ausgegangen und nach dem Dorf fuhren sie weiter nach Nupaky.  

Ich möchte hier gerne erwähnen, dass wir mit Vlasta, viele Jahre später, bereits während der deutschen Okkupation und des zweiten Weltkrieges, ziemlich oft mit den Velozipeden zu den Hyneks nach Heiligen reisten. Um sie zu besuchen, fuhren wir auf der gleichen Straße, wo wir sehr fest trampeln mussten, um den steilen Berg in Kuří zu bezwingen. Aber, liebe Freunde, dazumal waren wir erst zwanzig Jahre alt, was gleichbedeutend mit schöner Jugend war, demzufolge lag das ganze gemeinsame Leben erst vor uns. Es war ein verrückt schöner Teil unseres Lebens und ich musste jetzt eine Schreibpause einlegen, um in den Erinnerungen ein wenig zu schwelgen.

Unsere zwei Fuhrwerke sind mittlerweile an Nupaky vorbeigefahren und begaben sich in Richtung Česlice und weiter nach Pruhonitz (Průhonice). Ungefähr vor der zwölf Uhr sind sie in Průhonice angekommen und es blieben ihnen noch ca. 3 Kilometer über die Ortschaft Aujest (Újezd) nach Katharina (Kateřinky) zu gelangen, was noch nahezu eine Stunde Fahrt bedeutete. Opa Václav hielt bei der Gaststätte an, die nahe am Eingang in das Schloss von Průhonice war und Véna blieb knapp hinter ihm stehen. Der Großvater sprang vom Wagen und fragte seine Leute, ob sie etwas im Gasthaus essen oder trinken wollten oder ob jemand, hauptsächlich die Kinder, zum Örtchen muss. Weil aber Boženka und Fanynka während der ganzen Fahrt etwas Essen und Trinken verteilt haben, sowohl Erwachsenen als auch Kindern, war niemand hungrig oder durstig, im Gegenteil alle verspürten eine gewisse Müdigkeit von der holprigen, dreistündigen Reise auf unebener Straße. Deshalb wollten sie alle bald schon am Ziel angelangt sein, nur die Kinder mussten schnell zur Toilette gehen. Boženka und Fanynka brachten sie schnell ins Gasthaus zum stillen Örtchen, danach kauften sie noch den Kindern Limonade und den Männern einige Flaschen Bier. Sie verloren keine Zeit mehr, sondern kehrten schnell zu den Pferdegespannen, die vor der Beiz warteten. Als die Frauen dann auf dem Kutschersitz platznahmen, ergriffen sie die Lederriemen der Pferde, um die Männer abzulösen, die dann auch schnell verschwanden. Bald waren sie zurück und lobten gutgekühltes Bier, das sie unmittelbar ausprobieren mussten. Während kurzer Augenblicke setzten sie dann die Reise fort. Václav Hynek und Sohn  Véna machten es sich bequem auf den Kutschersitzen, gaben den Pferden Anweisung, bis sich die schweren Fuhrwerke in Bewegung setzten. Von kleinem Platz vor dem Schloss fällt die Straße ziemlich steil ab, in tiefere Teile von Pruhonitz, zu der Brücke, wo sie den Bach Botič überquert, damit sie auf der anderen Seite wieder zu der Wegkreuzung ansteigt, wo die Straße nach rechts abbiegt in der Richtung nach Újezd (Aujest). In einer Viertelstunde haben die Unseren das kleine Tal überwunden und erreichten die Weggabelung und fuhren durch Újezd (Aujest bei Pruhonitz) zum ihrem Ziel nach Katharina Dorf (Kateřinky). In einer kleinen halben Stunde  verlangsamten die Wagen ihre Fahrt entlang dem Zaun des Hinterhofes der landwirtschaftlichen Niederlassung der Lehovecs. Dort war das Hoftor schon geöffnet, wodurch sie direkt auf den Hinterhof gelangten. In einer kleinen Weile erschien auch schon Tomáš Lehovec, um seine Familie und seine Verwandten gehörig zu begrüßen.  Es ist nicht ohne Küsse bei den Kindern und Boženka abgegangen und bei den anderen ohne Umarmungen und Betatschen. Tomáš belustigte alle mit seiner obligatorischen Heiterkeit und machte Späße mit Fanynka mit der er sich immer gut verstand.     

Im Galopp auf dem Zugpferd vor dem Erntewagen

Weil ich als kleiner Bub in Heiligen um das Jahre 1952 in den Ferien manchmal war, erlebte ich dort auch ein Abenteuer mit Pferden, das mich in Erinnerungen bis heute verfolgt. Ich war ca. 6jährig, als mich ein Mitglied der Einheitlichen Landwirtschaftlichen Genossenschaft (Jednotné zemědělské družstvo = JZD), die damals bereits das Hyneks Gehöft beschlagnahmte, auf den Rücken eines Gaules klettern ließ. Es handelte sich um ein Paar Zugtiere, das vor einem Erntewagen eingespannt war mit dem man aufs Feld fuhr, um Getreidegarben zu holen. Ich verlangte zwar nach der Eskapade, aber ahnte nicht was für mich mein heimtückisch lachender Gönner plant. Sobald ich auf dem Rossbuckel war, ohne mich irgendwie einnisten zu können, knallte er mit der Peitsche und die Gäule begannen bergab zu galoppieren, in der Richtung der Eisenbahnbrücke. Ich musste mich krampfhaft an allen möglichen Lederriemen halten und mit den Oberschenkeln dem Pferd sein Rücken drücken, damit ich nicht vom Ross ab und unter die Eisenreifen des Erntewagens fiel. Es dauerte einige unendlichen Minuten lang, bis der tückische Fuhrmann die Pferde zum Halten brachte. Dann sprang ich ab und verschwand schnell aus seiner Reichweite. Seither näherte ich mich den Rössern nicht mehr viel. Es verfolgte mich dort irgendeine Art von Pech, weil mich einmal, auch als ich noch kleiner Bub war, ein Hund aus dem Gehöft leicht in den Bauch biss. Es geschah darum, weil, wie ich vermutete, meine junge Verwandte Zdenka, dem Hund auf den Schwanz trat, während wir miteinander spielten. Ich rannte hinaus, in den Garten, wo ich ein bisschen geheult habe. Danach verbrüderte ich mich mit den Hunden auch nicht mehr viel. 

Fanny Hynek war originell und schön als Mädchen

Die Schwester von Boženka, Tante Fanynka, wie wir sie nannten, war eine lustige und originelle Frau, die gerne scherzte. In ihren jungen Jahren war sie charmant wenn nicht attraktiv, schwarzhaarig, schwarzäugig, während sie einige Jahre als Haushälterin im nahen Dorf beim katholischen Pfarrer tätig war. Im Pfarrhaus hatte man sie gerne und der Pfarrherr fuhr sie manchmal mit seiner Kutsche durch umliegende Dörfer heim. Fanny hatte eigenartige Beziehung zu Männern, kannte sie wahrscheinlich gut, über die erdenklichen Kräfte  und Fähigkeiten der Jünglinge wusste sie vermutlich Bescheid, und sprach sie häufig mit dem Wort „Du Büffellein“ an. Nach der Familiensage redete sie sogar gelegentlich den Pfarrer, wo sie diente, mit diesem Wort an. Es war aber vermutlich nur Spaß, es hatte keinen konkreten Anhalt, weil sie gleich mit ihrem Neffen, dem kleinen Ladislav Soukup, dem Sohn ihrer Schwester Zdenka, redete. Dieser einer war schrecklich lebendig, unruhig, ständig herumlaufend, so dass man oft erklärte, dass er vom wilden Affen gebissen war (allerdings gibt es dafür auf Tschechisch ein Ausspruch „aus wilden Eiern geschlüpft zu sein“).  

Als sie ankamen, fragte sie Tomáš nach dem Reiseverlauf aus, ob alles glatt gegangen sei, hauptsächlich  mit den Rössern, ob die Kinder nicht unartig gewesen wären, ob alle in Ordnung seien und ob sie hungrig oder durstig seien. Er war fähig auch alles andere zu erfahren, was ihm im Moment wichtig erschien. Selbstverständlich hatte Tomáš auch eine Erfrischung für alle parat, aber niemand war vorläufig interessiert, sowohl die Erwachsenen als auch die Kinder wollten hauptsächlich wissen, wie das neue Heim der Lehovecs aussieht. Also schlossen sie das Tor, spannten die Rosse aus und führten sie in den Pferdestall, wo sie Futter und Wasser kriegten. Unmittelbar danach begann die Besichtigung der Siedlung und alles anderem. Großvater Václav und Onkel Véna beabsichtigten aber, nach dem Ausladen der Fracht, Hilfe mit der Verteilung der schwersten Möbelstücke, die Rückreise am selben Tag anzutreten. Zu Hause wartete auf sie Arbeit und sie konnten nicht ihre ganze Last der Großmutter Maria, dem Onkel Jan und Tante Zdenka überlassen. Nach der Besichtigung der Gebäude begannen sie die Fuhren zu entladen, die mitgebrachte Fracht in einzelnen Häusern und Zimmern zu verteilen. Das Hauptwort führte dabei Boženka, die alle Einzelheiten im Voraus durchdachte, so dass alles völlig fließend verlief. Tomáš entschied über den Standort der Dinge, die mit der Landwirtschaft beziehungsweise mit der Gastwirtschaft zusammenhingen. Ein großes Erlebnis war der erste Tag im neuen Heim für Vlasta und ihren Bruder Břetislav. Als mir Vlasta viele Jahre später alles erzählte, hatte sie noch viele Sachen in lebendiger Erinnerung, obwohl sie damals nur fünfjährig war.
Als die gröbste Arbeit getan war, bereitete sich Großvater mit Véna zur Abfahrt und es begann wieder die Zeit des Abschieds. Die Schwester von Boženka, Fanynka, sollte noch ein paar Tage bleiben, damit sie helfen konnte, wo es nötig war, wobei sie auch auf die Kinder aufpassen musste, solange nicht alle Arbeit beendet war. Alle warteten auf das Drama, das für kleine Vlasta bei dem Abschied von Großvater beginnen sollte. Zur Verwunderung aller verlief es nicht so herzzerreißend, wie man erwartete. Opa versprach ihr bei der Abfahrt einige Male, dass er sie bald holen wird, so dass sie ihn allmählich losließ und mit Tränen in den Augen eine glückliche Rückreise wünschte.
Und auf diese Weise fuhren Václav mit Véna aus dem Tor des hinteren Hofs und bogen links ab in die Richtung Aujest bei Pruhonitz.
Hinter ihnen sind die Lehovecs und Fanynka auf die Straße getreten und winkten den wegfahrenden Fuhrwägen und schauten ihnen nach, bis sie in der Ferne verschwanden.

Die Jugend, Aufwachsen und bäuerliche Schinderei in Katharina Dorf

Die landwirtschaftliche Niederlassung von Tomáš und Boženka gehörte nach der Ausdehnung ihrer Ländereien zu Landhöfen mittlerer Größe. Ihre Felder dehnten sich um die Ansiedlung herum. Katharina war eher eine Häuserkolonie auf beiden Straßenseiten, die von Chodau nach Aujest führte,  als ein Dorf. Einen Dorfplatz gab es nicht. Es war auch später so, während der Kriegsjahre, als ich dorthin zu fahren begann. Soviel ich mich erinnere, betrug die Häuseranzahl etwa zwanzig, höchstens dreißig. Die Mehrheit männlicher Einwohner waren Handwerker, die der Arbeit nach Prag folgten und lokal nur kleine Felder oder Wiesen besaßen. Ich entsinne mich nur drei Familien, die ausschließlich von Landwirtschaftsarbeit lebten. Wenn man durchs Dorf ging in Richtung Aujest, wohnte in der Siedlungsmitte auf der linken Seite die Familie Šťastný (Glücklich), hinter ihnen dann die Familie Lehovec, danach weiter, hinter dem zum Militschauer Wald abzweigendem Feldweg stand das Gehöft der Familie Hakl. Die Hakls hatten den Beinamen „Vom Kreuz,“ weil an der Ecke zwischen der Straße und dem Feldweg nach Militschau, neben ihrem Eingang, eine Passionssäule stand. Es war ein zierlich geformtes Kreuz aus Eisen, das grün lackiert und in einem Steinpodest befestigt war. Vielleicht steht dort die Martersäule bis heute. Das Kreuz war ein gewisser Mittelpunkt der Siedlung, zuweilen trafen sich dort Eltern zum Plaudern und Dorfkinder zu verschiedenen Spielen. Im Frühling und im Sommer, während warmer und heller Abende, herrschte dort ein ziemlicher Betrieb und Frohsinn, wobei kleine Vlasta und Břetislav nicht fehlen durften. Im sommerlichen Trubel rannten dort Kinder umher bis spät in den Abend und die Eltern brachten sie nur mit Mühe ins Bett. Vlasta war ein sehr lebendiges Fräulein, das gern an allen Kinderspielen teilnahm und in allem unter den Ersten war. Sie rannte schnell umher wie ein Luftikus, so dass sie sich selber mit den Fersen in den Hintern trat, wie ihre Mutter, Boženka, mit Lachen zuweilen erzählte. Unter dem Geschrei, Lachen und Plaudern der Kinder war ihre Stimme immer klar zu hören. Um Katharina Dorf herum waren dazumal, Ende der Zwanzigerjahre, aber auch später während des Zweiten Weltkriegs, und viele Jahre danach, breite, nichtverbaute Flächen von Feldern und Wiesen.  Östlich der Siedlung breitete sich in Entfernung von etwa dreihundert Metern der militschauer Wald aus. Hinter dem Wald, auf seiner Nordseite, stand das größere Landgut „Militschau,“ zu welchem auch vier Teiche gehörten. Die Wasserbecken waren künstlich angelegt und standen von Westen zu Osten hintereinander in einer Reihe in hießen in Übersetzung Neuer Teich, Junger Eber, Kegel und Mörder. Einige Regionen der  Felder und Wiesen um das Dorf trugen Namen, die auf keiner Karte verzeichnet wurden. Der Gegend zwischen der Siedlung und dem Wald sagte man „Auf dem Felsen“ und den großem Felder Raum zwischen Dorf und Militschau nannte man „Im Windkessel.“ Die Nachbardörfer waren damals zwei bis drei Kilometer entfernt. Nordwestlich von Katharina hinter dem Hügel war Chodau, südwestlich Scheberau (Šeberov), östlich lag Aujest und nördlich auf dem Hügel war Gehaag (Háje). Dem war es so auch viele Jahre später, als ich diese schöne Gegend kennenlernte, während ich Vlastička besuchte oder vielmehr mit dem Fahrrad hinfuhr. Aus Erzählung weiß ich, dass der Anfang landwirtschaftlicher Tätigkeit von Boženka und Tomáš nicht leicht war. Sie liebten sich, sie waren jung, sie hatten festen Willen für sich und ihre Kinder ein wenig akzeptablen Lebensstandard zu erreichen. Schwerer Arbeit waren sie von Zuhause aus gewöhnt, so dass sie sowohl die Mühen der Landwirtschaft, als auch den Betrieb der Gastwirtschaft bewältigten. Die Kombination von zwei Erwerbstätigkeiten war damals auf dem Lande nichts Ungewöhnliches und meistens gelang  gemeinschaftliches Geschäft gut.  Der Erfolg war von den Menschen, von ihren Bemühungen, ihrem Unternehmergeist und auch etwas Glück abhängig. Aber dem Unternehmungslustigen ist Glück gewogen, wie man generell annimmt. In der Landwirtschaft war nicht immer der Geldzufluss gesichert. Das Geld kam stoßweise, besonders nach der Ernte oder nachdem man das Geflügel und das Vieh gemästet hat. Auf Geld musste man warten und oft geschah es bei unrichtigem Wirtschaften, dass ein Geldmangel herrschte. Wenn man neben der Landwirtschaft auch noch Gastwirtschaft betrieb, die richtig geführt werden musste, bot sich die Möglichkeit eines beständigen und regelmäßigen Geldzuflusses. Eine andere Chance etwas mehr Zahlungsmittel zu erwirtschaften war, sich auf bestimmte Landwirtschaftsprodukte zu konzentrieren, die man schnell verkaufen konnte, z.B. Milch, Eier und Schweinefleisch. Das alles und sicher auch andere Möglichkeiten, berücksichtigte Familie Lehovec am Anfang ihres gemeinsamen Lebens in Katharina, einem kleinen Dorf bei Chodau in der Nähe von Prag. Als sie nach Katharina kamen, hatten sie zwar Gebäuden, Felder, Wiesen, was aber fehlte, waren landwirtschaftliche Maschinen, Gerät, Fahrzeuge. Außerdem fehlten ihnen sämtliche Nutztiere. Die Gaststätte konnten sie relativ schnell in Betrieb setzten. Das haben sie auch so gemacht. Tomáš übte seine gelernte Arbeit noch einige Zeit aus und fuhr täglich zur Firma Vondřich in Karolinental (Karlin). Wie lange er noch so reisen musste, weiß ich aber nicht mehr, vermutlich waren es noch eins bis zwei Jahre, vielleicht länger.
Nach ziemlicher anfänglicher Mühe und harter Arbeit entwickelte sich der Wirtshausbetrieb vielversrechend. In einigen Monaten war die Gaststätte „Bei Tomáš“ wohlbekannt und beliebt in allen umliegenden Dörfern. Der Verdienst dafür gehörte beiden Boženka und Tomáš. Boženka besorgte das Gasthaus während der wöchentlichen Arbeitstage, Tomáš kümmerte sich um alles jeden Abend nach der Arbeit, vorwiegend aber an Samstagen und Sonntagen, wenn dort der größte Betrieb herrschte.  

Neues Gasthaus in Katharina Dorf schon vor der Elektrifikation

Wie ich bereits sagte, war Tomáš biederer und lustiger Natur, immer zum Spaß gelaunt. In kurzer Zeit wurde er allgemein bekannt und die Dörfler kamen gerne in sein Wirtshaus, um ein paar Bier und heimisches Essen zu genießen. Wegen seiner  Beredsamkeit und Behändigkeit verdiente er sich bei den Stammgästen den komischen Beinamen „Haselhuhn.“
Damit das Bier allen gut schmeckte, musste es frisch, rein, gut gepflegt und vor allem richtig temperiert sein. Darum kümmerte sich selbstverständlich Tomáš. Die Zinnröhre, in denen das Bier, von den Fässern über die Kühlbehälter unter dem Tresen bis zu den Zapfhähnen, unter Druck floss, reinigte er regelmäßig mit heißem Dampf. Die Bierkühlung besorgten Zinnspiralen, die im zerschlagenen Eis in den Kühlbehältern lagen. Den elektrischen Strom hat man in den Zwanziger- und Dreißigerjahren in Katharina Dorf noch nicht eingeführt. Auch nach vielen Jahren, bereits während des Zweiten Weltkriegs, leuchtete man dort mit Petroleumlampen. Alles musste man von Hand bewerkstelligen, so beispielsweise die Druckluft für Bierausschank musste man in die Fässer mit Hilfe einer altertümlichen Pumpe befördern. Das war ziemlich anstrengend, wie ich später selber beim Drehen eines großen Pumpenrads erfahren musste, als ich mich bemühte der Vlasta ihre schwere Arbeit wenigstens etwas zu erleichtern. Die Pumpe war veraltet, von einer unwirksamen Konstruktion, sodass man, damit man in den Fässern genügend Druck erzeugte, mindestens eine halbe Stunde das Rad drehen musste. Je höher der Druck im System war, desto schwieriger wurde das Pumpen. Das Luftfüllen musste man einige Male am Tag wiederholen und auch nach jeder Fassänderung. Sicher wird man glauben, dass es für eine Frau eine große Schufterei war. Elektrischen Strom führte man in Katharina erst nach dem Zweiten Weltkrieg ein. Katharina gehörte zur Gemeinde Aujest, deren Gemeinderat und Herr Bürgermeister damals entschieden, ob und wann der Strom eingerichtet wird. Dazumal war dort als Bürgermeister der örtliche Müller. Wie der Herr hieß, weiß ich nicht mehr. Zur Installation der Elektrizität brauchte man Geld, das die Gemeinde Aujest nach dem Krieg nicht hatte, wie wenigstens Herr Bürgermeister und der Gemeinderat behaupteten. Die Dörfler wollten aber die Elektrizität, schlussendlich war es eine Schande, dass ein Dorf, knappe zehn Kilometer von Prag entfernt, noch im Jahr 1945 mit verrussten und trüben Petroleumlampen leuchtete. Es entstand ein Gedanke, ich weiß nicht sicher von wem er stammte, aber ich würde mich nicht wundern, wenn es die Lehovecs gewesen wären, dass der Gemeinde Aujest ein paar solventer Bürger von Katharina, die Finanzen zinslos leihen werden. Nach einiger Zeit von Gesprächen über die Anleihebedingungen zwischen den Bürgern zweier Dörfer, kam es zu einer positiven Abmachung. Sogar ein paar Bürger von Aujest, unter ihnen auch Herr Mühlemeister, wollte plötzlich Geld leihen. Im Abkommen wurde festgehalten, dass die Gemeinde Aujest, sobald sie konnte, allen Gläubigern das Geld zurückzahlen wird. Wer alles Geld lieh, weiß ich nicht mehr, aber die Lehovecs investierten in das Unternehmen einige Zehntausende von Nachkriegskronen. Und so kam es zum Bau der Elektrizitätsleitungen und zur Installation der Elektrizitätseinrichtungen in Katharina. Wie lange das Aufbauen der elektrischen Leitungen dauerte, ist mir nicht mehr bekannt, sicher aber viele Monate, weil es sich nicht bloss um eine Kleinigkeit handelte. Eines schönen Tages aber, zur Freude aller Dorfbewohner, erstrahlten leuchtende Glühbirnen in jedem Haus von Katharina. Was ist dazu noch zu sagen? Es sei hier nur eine klagende Anmerkung angeführt: Dem Bürgermeister wurde das Geld vergütet, wem sonst entging mir, aber von Erzählung weiß ich als gesicherte Tatsache, dass Tomáš Lehovec auf die Geldrückerstattung bis zum heutigen Tage in seinem Grab auf dem Chodauer Friedhof wartet. Die Einführung elektrischen Stromes veränderte schlagartig das Leben der Einwohner der Siedlung            zum Besseren, die Schufterei hat sich wesentlich vermindert, es war ein Sprung ins technische Zeitalter.

Vor dem Krieg in den Zwanzigerjahren war es aber noch eine ferne Zukunftsmusik. Die Familie Lehovec kümmerte sich nach der gelungenen Ingangsetzung  des Wirtshauses weiterhin um die Verwirklichung ihres Hauptvorhabens, was die Gründung eines Landwirtschaftlichen Betriebs war.  Dazu brauchte man viele Sachen und eine Menge Geld. Eine Möglichkeit war, sich die Finanzen von eine Bank leihen und Schulden machen, der andere Weg war die nötige Ausrüstung sukzessive zu erwerben. Die Familie wählte die zweite Alternative. Das Schuldenmachen und dann die ihre mühsame Zurückzahlung schien ihnen bedenklich.  Tomáš kaufte zuerst ein paar guter jüngerer Rösser und hinter sie mindestens zwei feste Frachtwagen. Zu dem Zweck befuhr er die nähere und fernere Umgebung, sprach mit Menschen und wählte sorgfältig. Tomáš kannte sich aus. Er besorgte sich zuerst ein wichtiges Beförderungsmittel, damit er sich später viele andere nötigen Dinge selber holen konnte. Und so ist es auch geschehen. Er kaufte und brachte allmählich Maschinen und Gerät heim, die es für die Arbeit auf Feldern und Wiesen bedurfte. Das ermöglichte ihm in einem Jahr nach der Übersiedlung auf seinem neuen Land eigenes Viehfutter für Pferde, Kühe und andere Nutztiere aufzuziehen. Er hatte auch Geflügel und produzierte für seine Familie bereits im folgenden Sommer Grundnahrungsmittel wie Kartoffeln, Getreide und Gemüse.

Den landwirtschaftlichen Betrieb langsam zum Laufen zu bringen war nicht Frage des richtigen Organisierens und Verfahrens, aber auch harter Arbeit. Tomáš setzte nämlich die Tätigkeit beim seinem alten Arbeitsgeber, der Firma Vondřich, in Karolinental fort. Er verdiente dort gutes Geld, das in jener Zeit überall nötig war. Er konnte sich der Landwirtschaft vorläufig an Wochentagen nur nach seiner regulären Arbeit widmen, den ganzen Tag dann an Samstagen und Sonntagen. Positive Resultate seiner Bemühungen zeigten sich dann zu guter Letzt.

Nach der ersten Ernte, im zweiten Jahr nach der Übersiedlung von Heiligen zu Katharina, entschieden die Lehovecs für den Anfang sechs Milchkühe zu kaufen. Der Kuhstall war tadellos vorbereitet und nachdem Tomas hochwertige Tiere fand, kaufte und heimbrachte, konnte sie gleich zu ihrem Trog appetitvoll treten, der mit frischem Viehfutter randvoll gefüllt war. Die Zucht von Milchvieh gedieh gut und die Lehovecs trugen dazu mit ihren Kenntnissen gründlich bei. Sie wollten die gebrauchten finanziellen Mittel gewinnen, vor allem durch Herstellung und Verkauf guter Milch, was ihnen stufenweise auch gelang. In den folgenden Jahren erweiterten sie die Milchproduktion, sodass im Kuhstall schlussendlich bis zu sechzehn Melkkühe standen, wie mir Vlasta später erzählte. Die Milcherzeugung war beträchtlich. Wenn ich mich nicht täusche, gab eine Milchkuh damals 20 bis 25 Liter  Milch pro Tag, was einen anständigen Geldverdienst darstellte. Bald waren die Lehovecs in den umliegenden Dörfern gut bekannt durch ihren soliden Handel und Verkauf von guten landwirtschaftlichen Produkten. Die Leute kamen zu ihnen, um Milch zu holen, aber den grössten Teil lieferte Tomáš ab in großen gekühlten Aluminiumkannen. Für gute Milchqualität war die Kühlung und Reinheit ausschlaggebende Faktoren. Weil noch keine Elektrizität installiert war, wurde die Milchkühlung ähnlich bewerkstelligt wie die Kühlung von Bier. Zu dem Zweck brachten ihnen Prager Eisproduzenten-Firmen regelmässig ein- bis zweimal wöchentlich meterlange Eisbalken. Regelmässige Eislieferungen waren für Tomáš sehr wichtig, hauptsächlich was die beträchtliche produzierte Milchmenge betraf, vor allem in den warmen Monaten. Es ist dadurch leider eine bestimmte Abhängigkeit von den Eislieferern, die Tomáš nur dadurch umgehen konnte, indem er Eis von mehreren Eisproduzenten-Firmen gleichzeitig bezog und mit jeder Firma einen geeigneten Vertrag mit bestimmter Lieferungsgarantie abschloss.

Die Zwanzigerjahre neigten sich langsam zum Ende und Vlastička mit ihrem Bruder Břetislav wuchsen auf. Dann kam die Schulzeit. Aus Vlasta ist ein bannig schönes siebenjähriges Mädchen geworden mit dunkel braunen Augen und langen braunen Haaren, sehr lebhaft, bissel übermütig, mit allen Kindern des Dorfes befreundet. Auf den Schulanfang freute sie sich, wie es bei den Fräuleins meistens so ist. Vielleicht ist das dadurch bedingt, das die Mädels in diesem Alter tropfenweise reifer sind als die Buben und vielleicht auch fleissiger. Vlasta musste in diesem Alter schon nach ihren kindlichen Kräften zu Hause bei der Arbeit helfen und tat es auch gerne so. Mit ihren sieben Jahren war sie schon eine Freundin der Schönheit und liebte hübsche Kleidchen und Schuhlein und alles, was dazu gehörte. Boženka, ihre Mami, gewährte ihr die  Wünsche nach ihren Möglichkeiten. Einerseits liebte sie ihre Kinder, wie die Mehrzahl der Mütter, andererseits schätzte sie ihre Eigenschaften, weil sie schon damals ein braves, arbeitsames und gescheites Mädchen war und ihrer Mama eine wertvolle Helferin.

Der Schulbesuch in Scheberau vor dem Krieg


Schon lange vor dem ersten Schultag hatte unser Mädel alles nötige, selbstverständlich einschliesslich schöner Schulkluft, parat. Die Eltern meldeten sie rechtseitig zum Schulbesuch in die Staatliche Volksschule im nahen Dorf Scheberau (Šeberov) an. Zufälligerweise war dort auch als Oberlehrer ein angenehmer Zeitgenosse mit dem Namen Lehovec tätig. Er war sogar irgendwie mit Tomáš verwandt. Um welche Verwandtschaft es sich handelte, weiß ich leider nicht, aber man könnte es sicher aus alten Aufzeichnungen herausfinden.

Und so kam der ersehnte erste Schultag. Vlastička a Boženka putzten sich heraus und, gestärkt durch gutes Frühstück, begaben sie sich auf den Weg na Scheberau. Es führte dorthin damals direkt ein Feldweg, der breit genug für ein Pferdegespann war. Der Weg war dort noch zu meiner Zeit, als ich na Katharina zu kommen begann, um Vlasta zu besuchen. Denken Sie nicht, dass  Vlasta mit Boženka zu Fuss gingen. Selbstverständlich spannte Tomáš die Pferde vor die Kutsche ein. Nachdem er sich selber zurechtgemacht hat, fuhr er mit einer Melone auf dem Kopf seine Droschke vor das Tor des Hinterhofs, wo er auf seine Mädchen und Břetislav wartete.  Am ersten Schultag stand aber Tomáš mit seiner Kutsche auf der Straße nicht alleine. Es hat einige Pferdegespanne entlang der Straße gegeben. Erstklässler gab es damals in Katharina Dorf mehrere und jeder Vater, der nur irgendwie konnte, brachte sein Kind begreiflicherweise feierlich zur Schule. Zusätzlich wurden in jedem Wagen, wo es noch freie Plätze gab, auch andere Mütter mit Kinder transportiert, deren Männer sich ein eigenes Gespann nicht leisten konnten. An jenem Tag herrschte im Dorf eine fabelhaft feierliche Stimmung, beinahe der ganze Ort war auf den Beinen, jeder kannte jeden, und in laute Gespräche Erwachsener mischten sich fröhliche und erwartungsvoll erregte Stimmchen vieler Kinder, und zwar auch solcher die noch nicht oder nicht mehr zu Erstklässlern gehörten. Langsam beruhigte sich das Geschrei, das Herumrennen und Ermahnen der Kinder schwächte sich ab. Und als sich dann alle Schüller, Väter und Mütter in die Karossen einnisteten, begann sich die lustige Gesellschaft auf dem Feldweg zu Scheberau zu bewegen. Zwischen Katharina und Scheberau streckt sich eine Ebene aus und so blieb der Zug der Gespanne für die übrigen Dörfler noch lange sichtbar, bis er zwischen den Weiden und Papeln des Scheberau Teichs verschwand. Vlastička, Břetislav und Boženka sassen hinten und Tomáš vorne auf dem Kutschblock, weil er sein schönes Pferd steuerte. Unser niedliches Fräulein war frohgemut und freute sich auf alles, was ihr der erste Schultag bringen sollte. Sie freute sich, dass die Schule beginnt, dass sie zu lesen, schreiben und rechnen lernt, wie sie es häufig ihren Leuten erklärte. Im Übrigen kannte sie schon die üblichen Buchstaben und konnte auch einigermassen addieren und subtrahieren, was sie den Erwachsenen gerne manchmal vorführte. Sie war einfach in ihrem Alter längst ein geschicktes  Mädchen.

Alle haben sich noch lange an den ersten Schultag erinnert. Es ist zwar noch nicht viel passiert, aber für die Kinder blieb es dennoch ein großes Ereignis. Man erledigte bestimmte Formalitäten, die Kinder und hauptsächlich ihre Eltern wurden entsprechend instruiert. Bei den Auswärtigen sprach man über ihre Sicherheit, wie es nötig war, ihren Schul- und Heimgang zu organisieren und ähnliches. Die von Katharina stimmten überein, dass ihre Kinder im ersten Schuljahr in die Scheberau Schule zusammen gehen werden und zwei bis drei Elternteile sie immer abwechslungsweise hin und zurück begleiten werden. Und so ist es auch geschehen. Es gab damals schon mehrere Schulanfänger im Dorf. Wie viele es genau waren hat mein Kopf nicht behalten, bin aber überzeugt, dass mir mein Mädchen alles erzählte und einzelne Kindernamen auch aufzählte. Einige habe ich aber dennoch behalten. Hätte der Besucher das Dorf vom Westen zum Osten durchgeschritten, musste er vorbei an Häusern vom Herrn Vorláb, Žibřid, Vaníček, Medřický, Šťasný. Nachher kam das Wirtshaus bei Tomáš Lehovec und weiteres Haus und schlussendlich die Niederlassung bei Haklů.

Die genannten Anwesen standen auf der linken Straßenseite und in jeder Familie war mindestens ein, meistens aber mehr als ein, Kind, das in jenem Jahr und an jenem Tag begann in die Volksschule zu gehen. Auch entlang der rechten Straßenseite waren Häuser, aber die Familiennamen weiß ich nicht mehr.

Vom Erzählten kann ich aber sagen, dass es sicher zehn, wenn nicht zwölf, Schulkinder gab. Sicher gibt man mir recht, dass so einen ausgelassenen Haufen in die Schule zu begleiten, ihn zusammen zuhalten und vor allem aufzupassen, dass nichts ernstes passiert keine leichte Angelegenheit war. Trotzdem denke ich, dass damals, Ende der Zwanzigerjahre (1929), die Disziplin der Kinder im Schulalter sicher etwas besser als heute war, und hauptsächlich, dass die Kinder viel mehr bescheiden sein mussten. Der heutige übertriebene Wohlstand, der einen ungünstigen Einfluss auf das Kinderverhalten hat, war zur damaligen Zeit unbekannt. Der Überfluss von allem, der für Kinder als Selbstverständlichkeit gilt, auch wenn es nicht der Fall ist, erweckt übertriebene Ansprüche und Verwöhntheit. Auch kannten die damaligen gelehrten Köpfe nicht den Widerspruch zwischen autoritativer und antiautoritativer Erziehung und allen anderen gern cleveren Erziehungsrichtungen. In jener Zeit hat es nicht an einer Ohrfeige oder einem kleinen Rutenschlag auf den Hinteren gemangelt. Ich verteidige nicht damalige Erziehung, ich möchte die Sache nur erwähnen. Obwohl sie veraltet war, bildete sie vielleicht viel mehr widerstandsfähige Individuen zu den Problemen des Lebens aus, sodass die heutigen ernsten Probleme mit einem Teil der Jugend unbekannt waren. Jugend die, wie ich manchmal denke, nicht weiß, was zu tun mit eigenem Leben und Körper.  

Die Gefährte mit Kindern und Eltern erreichten den kleinen Platz vor der Volksschule, wo sich bereits eine Menge von Knirpsen aus Scheberau und umliegenden Dörfern gab. Es herrschte eine feierliche Stimmung. Das Schulgebäude war geziemend geschmückt mit einigen Staatsflaggen und in den Fenstern sah man frische Blumen. Selbstverständlich fehlte es nicht an ein paar Verkaufsständen mit Erfrischungen. Der hiesige Metzger und Fleischer war bereits voll beschäftigt. Vlastina und ihre Familie sind dem Wagen entstiegen und begaben sich in das Schulgebäude, wo ihre Mutter in den ausgehängten Listen die Unterrichtsklasse fand, wohin ihr Mädchen gehörte. Vlasta war ein wenig aufgeregt, wie es bei dieser Gelegenheit bei Kindern passiert und wartete, was weiter geschieht. Im Klassenzimmer setzte sie sich in die Schulbank der ersten Reihe, damit ihr nichts entgeht, wie sie sagte. Es entsprach ihrem heiteren Naturell ohne Furcht, wie ich selber viele Jahre später selber herausfand. Nach einer kurzen Weile trat in die Klasse Herr Lehrer Lehovec, ein massiger Mann mittleren Alters, mit einem angenehmen Gesicht und allgemein Vertrauen erweckenden Aussehens. Das Getümmel und Geräusch in der Klasse verstummte. Der Lehrer schloss die Tür hinter sich, stieg auf das Podest und grüsste beschwingt die Kinder und ihre Eltern, dann setzte er sich hinter sein Pult und begann den ersten Schultag für die kleine Vlastička und andere Kinder. Es war der Beginn eines vieljährigen Schulgangs mit seiner Lust und seinen Leiden, wie ihr alle sicher gut wisst. Ein Kind geht gern in die Schule, ein anderes weniger gern. Vlasta ging in die Schule in Scheberau meistens mit Freude, wie ich aus der Erzählung weiss ich. In der Klasse gab es viele Kinder aus Katharina, also Freunde und Bekannte. Herr Lehrer Lehovec war zwar ein bisschen streng, aber im großen Ganzen ein Biedermann und im Grunde hatte er Kinder gern. Vlasta erinnerte sich an diese Zeit gern, vor allem an den Querfeldweg, den sie täglich hin und zurück, gemeinsam mit den anderen Kindern, passierte und der oft sehr lustig war. Sie schilderte wie sie in Winter Schneeschlacht mit Schneebällen machten und durch die Schneeverwehungen wateten. Wenn sehr viel Schnee gefallen war, musste Herr Šťastný, Herr Hakl oder Vater Tomáš mit den Pferden den Schneepflug im Feldweg nach Scheberau durchziehen, um es schneefrei zu machen, damit die Kinder überhaupt zur Schule und zurück gelangten. Und das passierte oft, weil, wie ich mich erinnere, die Winter in den Zwanziger- und Dreissigerjahren viel strenger als heute waren. Frosttage mit zwanzig bis dreissig Grad unter null und meterdicke Schneeschichten waren keine Seltenheit. Es waren wirkliche, manchmal sogar malerisch anmutende, Winter. Die Kinder, die keinen Mangel an geeigneter Kleidung hatten, grüssten solchen Winter immer mit Freude und ergötzten sich schon seit Herbst beim Gedanken an nahende Winterfreuden. Anders war es bei Kindern deren Eltern nicht genug Geld hatten, um sie warm anzukleiden und es waren nicht wenige. Solche Kinder freuten sich sicher nicht auf den Winter, weil sie ziemlich durch Frost und Schnee litten. In einigen der letzten Jahrzehnte ist das Klima wärmer geworden, zwar langsam, aber man kann es merken. Ist es vielleicht der Anfang einer nahenden tropischen Zeit, wer weiss es? Sicher sind als Mitverursacher Abwärme und Abgase der Industrie und der Motorisierung, die ständig steigen über zulässigen Grenzen, zu berücksichtigen. Das Wachstum der Industrie auf der ganzen Welt, das fossile Materiale verbrennt und verarbeitet, ist eine schwerkontrollierbare Belastung der Atmosphäre, weil die Bewohner der Erde schnell zunehmen. Lassen wir aber das heute bereits kontroverse Philosophieren.

Das Kundtun der Liebe ist das Glück


Der erste Schultag von Vlasta endete, nachdem sie sich mit allem Nötigen bekannt machte. Die Familie Lehovec kehrte nach Hause zurück. Vlastička war zufrieden und schaute alle Lehrhilfen durch, die jedes Kind vom Herrn Lehrer bekommen hat, hauptsächlich das schöne farbige Abc-Buch, in dem sie Buchstaben anschaute, die sie bereits kannte.  Es half nichts, der feierliche Tag war zu Ende, gleich am nächsten Tag begann der gewöhnliche Schulbesuch, sodass unsere frischgebackene Schülerin schon vor sieben Uhr am morgen aus dem Bett schlüpfen musste. Das hat unserem Mädchen nicht sehr gefallen, aber sie hat sich schnell daran gewöhnt und hopste schnell aus ihrem Nest und weiter verlief alles schon gut, es traten keine Schwierigkeiten auf. In kurzer Zeit war sie mit Vorbereitungen fertig und gesellte sich   vor dem Wirtshaus zu dem Haufen anderer Kinder in Begleitung Erwachsener, damit sie mit ihnen erneut nach Scheberau in die Schule ging. Natürlich war dort auch Mama Boženka, damit sie ihr Töchterchen auch am zweiten Tag abfertigen kann, sicher mit stillem Segen, auf ihre erste selbständige Reise in die Schule. Laut wünschte sie Vlastina viel Erfolg, hauptsächlich auch gute Laune, und dann umarmte sie ihr Mädchen innig und küsste sie auf beide Wangen, dass Vlasta durch die plötzliche Herzlichkeit angenehm überrascht war.  Boženka liebte ihre Kinder, war jedoch mit liebevollen Äusserungen ein wenig sparsam. So erzählte es mir Vlasta einige Male, während unseres langen gemeinsamen Lebens mit etwas Wehmut in der Stimme. Es fehlte ihr, dass sie von ihrer Mutter nicht besonders häufig heissere Liebesäusserungen während ihrer Jugend erleben durfte, obwohl sie es erwartet oder gewünscht hätte. Auch ich sehe es leider Gottes heute so. Wenn wir jemand wirklich lieben, sollten wir unsere Liebe wenigstens einmal täglich der Person herzlich kundtun.  Es verschönert das Leben unermesslich. Hugo liess sich nach dem Tod von Vlastička, bei zusammenschreiben der Erinnerungen, durch Träume von einem perfektem Leben hinreissen, die teilweise nicht ganz der vergangenen Realität entsprachen. Er sah sein idealisiertes Leben auf der Seite seiner Frau als unermesslich schön und dadurch, hoffen wir es, schwebte er schon in himmlischen Sphären.

Was ist das Glück oder das Gefühl des Glücks? Unerfreulicherweise handelt es sich nicht um einen dauerhaften Zustand. Das Glück ist im Leben eine Zusammenzählung von Sekunden, vielleicht auch Minuten, dauernder schönen Empfindungen. Je mehr solcher Gefühle wir erleben, desto besser. Im Gegensatz, die Trauer wegen verschiedener Missgeschicks oder für uns ungünstiger Gefühle dauert viel länger, meistens sehr lange, manchmal Stunden oder sogar mehrere Tage, Wochen oder Monate. Die Erzählung meiner Vlasta über ihre Sehnsucht nach Äusserungen der Liebe ihrer Mama beinhaltete für mich eine gewisse verborgene Aufforderung, dass ich selber ihr öfter die Liebe bezeugen sollte, was ich Dummkopf nicht sofort begriff. Ich hoffe, dass sie es mir vergab, sie wusste doch, dass ich sie über alles liebte.

Vlasta beendete die Volksschule in Scheberau innert fünf Jahre. Ihr Bruder Břetislav begann auch ein Jahr später dorthin zu gehen. Man schrieb damals ungefähr das Jahr 1932 oder 1933, als Vlasta fertig wurde. Ich weiss nämlich nicht, ob man damals mit der Schule mit sechs oder sieben Jahren anfing. Ich denke aber, dass es nicht so wichtig ist. Die Jahre gingen dahin und aus Vlasta wurde ein schmuckes Mädchen.  

  


Die Landwirtschaft Arbeiter aus der Slowakei


Das landwirtschaftliche Unternehmen der Lehovec hat sich mittlerweile, zu Zufriedenheit aller, gedeihlich entwickelt und das Wirtshaus hat finanziell gut prosperiert, erhöhend die Lebensqualität der Familie. Vlasta war arbeitsam und schon in frühen Jahren half ihren Eltern beträchtlich. Während dieser Zeit beschäftigten die Lehovec auch einige Hilfsarbeiter  aus der Slowakei. Zuerst kam einer, der Brůša hiess, war ein gutmütiger Gehilfe, der 40 oder 45 Jahre alt war, wie ich mich aus der Erzählung erinnere. Brůša ist jedoch nach ungefähr zwei Jahren weggegangen und seine Stelle nahm ein anderer Knecht Namens Adam Škyvra ein. Adam war bei den Lehovec viele Jahre angestellt und war schon beinahe wie Familienmitglied. Viele Jahre später habe auch ich, ihn kennengelernt. Es war ein guter Mann, der immer alleine lebte und nur sehr selten seine Verwandten in der Slowakei besuchte. Bei den Lehovec hatter er ein eigenes Zimmer im hinteren Haus. Er war gut drauf, sodass als ich ihn kennenlernte, benahm er sich wie zu Hause. Er lebte bei den Lehovec schon acht Jahre. Wenn er Durst hatte, ging er zum Tresen und schenkte sich selber ein Bier ein. Wenn er Lust hatte zu rauchen, nahm er sich in der Beiz Zigaretten. Niemand von der Lehovec wehrte es ihm ab, wie ich selber beobachtete. Sogar einige Gäste im Wirtshaus, merkten es mit Verwunderung, wie mir Vlasta einmal sagte, und fragten Adam, ob er denn Schenkwirt sei im Gasthaus. Adam antwortete angeblich nichts, lachte aber verschmitzt und fuhr fort sein Seidel weiter mit Bier zu füllen.  Es hat ihm gut getan und ich glaube, er hat es auch verdient. Er hat viel die Lehovec viel gemacht, aber sie für ihn auch. Sie waren für ihn eine Ersatzfamilie, er fühlte sich wohl bei ihnen, sodass er ein Heim hatte für einen schönen Teil seines Lebens. Sie können sich sicher vorstellen, dass es manchmal auch zu Reibereien kam. So hätte einmal Adam die Boženka dermassen aufgeregt, ich weiss nicht mehr womit, dass sie anfing, ihn zu beschimpfen und schlussendlich sagte: „Also, packt eure Sachen und geht!“  Herr Adam aber antwortete keck nach slowakischer Art: „Madame, ich bin hier jetzt so lange, dass es schon mein Zuhause ist, also packt ihr eure Sachen und geht zur Abwechslung ihr.“ Boženka lachte nur und mit Adams aufsässigem Spruch war alles abgetan.  

Als ich Adam kennenlernte, ungefähr während der Jahre 1941-1942, war er vielleicht 50 bis 55 Jahre alt. Sein genaues Alter habe ich nie erfahren. Möglicherweise wussten es auch die Lehovec nicht, niemand hat je davon geredet.

Bevor er die Arbeit bei den Lehovec annahm, war er in Katharina Dorf bei einer anderen Bauernfamilie beschäftigt. In dieser Familie hatte das Hauptwort die Bäuerin und  nicht der Gevatter. Aber nicht nur, dass sie über alles entschieden hat, sie hat sich in der Familie auch am meisten abgerackert. Ihr Gatte neigte eher zu einem leichteren Lebensstil. Er war ein Musiker, spielte Trompete, soweit ich mich nicht irre, besuchte gerne verschiedene Beizen, die näher und ferner lagen. Entschieden war er aber kein Alkoholiker, aber verschmähte nicht gutes Mahl und Getränk. Zusammen mit ein paar anderen Musikanten aus umliegenden Orten, spielte er sehr oft an unterhaltenden Veranstaltungen und bei festlichen Anlässen. Seine Frau, die Bäuerin, führte das ganze Anwesen und wirtschaftete, wie Adam erzählte, auf eine sehr knauserige Art. Zur harten Arbeit musste sie sich noch kümmern und erziehen ihre Kinder, einen Sohn und eine Tochter. Nicht, dass Adam kein Essen gehabt hätte, aber gutes Bier zu trinken wurde ihm durch die Bäuerin nur selten erlaubt. Selber hat sie sich einige Bierchen jeden Tag insgeheim vergönnt. Das hat Herrn Adam sehr geärgert und deshalb fand er folgende Lösung. Er wusste wo die Bäuerin die Bierflaschen aufbewahrt und so hat er bei jeder Gelegenheit die Flaschen vorsichtig aufgemacht, trank mit Genuss etwas ab, damit er nachher die gezechte Menge mit eigenem Pipi nachfüllte. „UND WIE SICH MADAM DEN GESCHMACK LOBTE UND WIE SÜFFIG DAS BIERCHEN WAR“, erzählte lispelnd mit einem Lachen Herr Adam viele Jahre später.

In die Bürgerschule in Chodau und über Rosenbühl nach Prag


Nach dem Beenden der Volksschule in Scheberau begann im Leben von Vlasta eine grössere Veränderung, wie vielleicht bei jedem Kinde. Es ist ein gewisses Ende der Kindheit, wenn ein schon etwas ernsterer, allmählicher Übergang von der übermütig schönen Jugend  ins Erwachsenenalter beginnt. Keine Angst, glücklicherweise ist der Übergang wieder nicht so abrupt, er dauert etliche Jahre und der Mensch bleibt noch im Erwachsenenalter, meistens noch viele Jahre jung.

In der Lehovec Familie redete man jetzt oft darüber, was ihr Mädel nach der Volksschule weiter machen wird, wie sie sich auf das weitere Leben vorbereiten soll. Man sprach aber nicht nur über Vlasta mit Vlasta, aber auch mit Břetislav über Břetislav, der die Schule in Scheberau ein Jahr später beenden sollte.

In den Familien, wo man den Lebensunterhalt durch schwere körperliche Arbeit verdient, ist nicht selten die Entscheidung über den künftigen Beruf ihre Kinder keine einfache Angelegenheit. Meistens wollen die Eltern, sofern sie ihre Kinder lieben, dass es ihren Sprösslingen besser geht als ihnen selber, nicht zuletzt dass sie nicht so viel schuften müssen.  So war es auch bei den Lehovec. Es war hier aber die Landwirtschaft und das Gasthaus und wie man weiss, arbeitet in einem Wirtshaus Unternehmen meistens die ganze Familie, einschliesslich Kinder. Zu dieser Zeit lag aber die Schwere der meisten Arbeit auf den Schultern von Tomáš, Adam und Boženka. Die Kinder halfen nur hie und da aus, meistens bei leichter Arbeit, soweit es ihnen die Kräfte und Hausaufgaben erlaubten.

Schlussendlich einigte sich die ganze Familie daran, dass Vlasta und später auch ihr Bruder weiter an der Bürgerschule in Chodau studieren werden. Chodau war nicht weit von Katharina entfernt und leicht mit dem Fahrrad erreichbar oder wie man damals sagte mit dem Veloziped. Für Vlasta, die mit ihren zwölf Jahren auf dem Fahrrad wie ein Blitz herum fuhr, war der Weg nach Chodau in die Schule und zurück kein Hindernis.  Auch rücksichtlich der Sicherheit für das kleine Mädchen bestand kein großes Risiko. Der Verkehr auf der Straße nach Chodau und im Ort selbst war dazumal sehr dicht und die Kriminalität war sicher kleiner als heute.

Wie mir Vlasta später erzählte, hätte sie gerne die Mittelschule mit Matura absolviert, aber in ihrer Familie waren dazu nicht günstige Voraussetzungen.  Die nächste Mittelschule, also Gymnasium oder Realschule, war in Prag – Werschowitz (Vršovicích) oder auf Pankratz (Pankráci). Wegen des Arbeitsanfalls war es nicht möglich, dass jemand von den Eltern täglich das zwölfjährige Mädel nach Prag und zurück hätte begleiten können.  In der Familie hatte niemand Erfahrungen, wie der Unterricht auf Mittelschulen verläuft, so dass bestimmte Befürchtungen herrschten, wie Vlasta mögliche Schwierigkeiten beherrschen würde, wenn in der Familie niemand war, wer ihr helfen oder Rat geben könnte. Nicht zuletzt war der Lebensstandard der Lehovec von täglicher schwerer ganztägiger Anstrengung abhängig. In der Landwirtschaft als auch im Wirtshaus brauchte man jedes Paar arbeitsamer und geschickter Hände und die Eltern rechneten damit, dass Vlasta mit zunehmendem Alter immer mehr zu Hause helfen wird.

Durch das alles war Vlasta etwas bekümmert und enttäuscht. Ich weiss, dass sie zu der Zeit gerne  in die Schule ging, fleissig lernte, besonders gut das Rechnen beherrschte und die tschechische Sprache. Ich denke, sie hätte gute Voraussetzungen den Lernstoff der Mittelschule zu bewältigen gehabt. Auch das wusste ihre Mutter Boženka, die eine Frau mit Weitsicht war. Sie kannte die Fähigkeiten von Vlasta und die Situation wegen der künftigen nichtbefriedigenden Schulbildung tat ihr leid. Die beiden haben später oft miteinander über die Mittelschulbildung geredet und trösteten einander, dass vielleicht in den kommenden Jahren ein Übertritt auf eine Mittelschule möglich sein könnte.  

Die Chancen der Kinder von ländlichen, landwirtschaftlichen Gegenden waren damals bei weitem nicht gleich, wie diejenigen von Stadtbewohnern, eine gründlichere Bildung und somit bessere Voraussetzungen für ein einfacheres Leben zu gewinnen. Sicherlich hatten Kinder aus vielen städtischen Familien bessere Bedingungen für die Gewinnung mittlerer und höherer Bildung, schon darum weil wenigstens ein Mitglied der Familie solche Bildung hatte und konnte deshalb Ratschläge geben.  

Für Vlasta und ein Jahr später für ihren Bruder Břetislav begann ein neuer Lebensabschnitt, der grössere Anforderungen auf beide Kinder stellte und eine völlige Selbstständigkeit ihnen abverlangte, sowohl auf dem Schulweg, als auch in der Schule selber und bei den Hausaufgaben. Vlasta freute sich schon während der Sommerferien 1932 auf die Schule in Chodau, hat sich über alles selber informiert und hat für sich alle nötigen Sachen und Hilfsmittel vorbereitet. Nach Chodau ist sie häufig probeweise mit dem Velo gefahren, damit sie sich mit dem Weg familiär machte. Sie kannte schon auch alle Geschäfte in Chodau, obwohl es zu der Zeit nicht viele waren. Sie wusste auch wo man etwas Gutes zum Essen kaufen kann. Obwohl sie und ihre Familie bis anhin fast ausschliesslich auf die Dienste der Hausierer angewiesen war, die zeitweise Katharina Dorf mit einem Pferdewagen besucht haben, öffneten sich ihr anfangs des Schuljahres in Chodau völlig neue breitere Möglichkeiten und zwar in manchen Richtungen. Für die neugierige und aufgeweckte Vlasta war es alles etwas neu und aufregend, wenn auch nicht übermässig. Sie stand immer fest mit beiden Beinen auf der Erde und hatte einen praktischen Geist. Sehr interessant war auch die Tatsache, dass die große, für ein zwölfjähriges Mädchen attraktive, Stadt Prag in greifbarer Nähe von Chodau lag. Sie wusste, dass sie mit dem Fahrrad Rosenbühl, und somit Prags Vorstadt, innerhalb einer Viertelstunde erreichen kann. Zu Hause sprach sie über diese Möglichkeit nicht, aber während der Ferien 1932 besuchte sie diesen Ort eins, vielleicht zweimal, mit ihrem Velo, um ihn zu sehen. Durch Rosenbühl war sie sofort begeistert, es hatte eine Menge Geschäfte auf beiden Seiten des Platzes und entlang der Straße auf der nördlichen Seite der Ortschaft. Zu der  Zeit sah es völlig anders aus, als es jetzt aussieht. Das Tram ist damals bis dorthin noch nicht gekommen und der Ort war noch nicht so ausgedehnt. Die Endstation von Tram war in der Straße Beim Gaswerk unter dem Hügel Bochdaletz (Bohdalec). Zwischen Chodau und Rosenbühl war eine sog. Akzise, eine Binnensteuer-Erhebung , wo jedermann der das Gebiet von Prag betrat, sei es zu Fuss, auf dem Fahrrad, mit Pferdegespann oder mit Auto ein Gebühr für eingeführte Waren bezahlte. Auch mussten Besitzer von Motorfahrzeugen dazumal auf allen Prags Grenzen eine Maut zahlen für die Straßenbenutzung. Einige Straßen waren damals noch staubig. Solche war auch die Straße von Chodau nach Rosenbühl und weiter zum Bochdaletz. Soviel ich mich erinnern kann, zahlte man damals fünfzig Heller für ein Vehikel und der Ertrag ging auf die Reparaturen, Asphaltierung und Betonierung der Haupt- und Staatsstraßen. Auf diese Weise wurde die Straße von Prag nach Chodau und weiter über Katharina, Aujest nach Pruhonitz und weitere Richtungen erst ungefähr in der Mitte der Dreissigerjahre asphaltiert. Aus die Akzise-Stellen wurden erst dann aufgehoben.  

Nach den Ferien in Jahr 1932, die während Juli und August zwei Monate lang dauerten, begann Vlasta regelmässig jeden Tag in der Woche mit dem Fahrrad in die Bürgerschule nach Chodau zu fahren. Die Schule befand sich inmitten von Chodau in der Nähe des Gemeindeamtes und der Kirche. Ob die Schule noch dort steht, weiss ich heute nicht mehr. Das Aussehen dieser Orte ist heute durch den Einfluss der Autobahn und der Untergrundbahn und vieler unlängst gebauter Häuser und Gebäuden völlig anders, als das es im Jahr 1932 war, und auch als ich es von den Kriegsjahren 1939-1945 erinnere.  

**↓Der erste Tag in der Bürgerschule am 1. September 1932 war nicht mehr so feierlich wie in der Volksschule. Die Mehrheit der Kinder, bis auf einige Ausnahmen, war ohne Elternbegleitung. Auch Vlasta kam alleine, obgleich die Mama mit ihr gerne gekommen wäre, aber Vlasta wollte es nicht. Und so begann ihr damaliger dreijähriger Schulbesuch. Der Unterricht auf den Bürgerschulen war damals durch die Länge der Allgemeinschulpflicht bestimmt, die durchs Gesetz geregelt war und bis zum vierzehnten Lebensjahr dauerte. Ich denke, dass das Gesetz noch lange weiter gültig war, vielleicht bis heute. Vlasta genoss die neue Freiheit des selbstständigen Lebens und der Bewegung mit gewisser Freude, obgleich sie alles mit Vernunft beurteilte.Sie sah bei ihren Eltern, dass das Leben nicht immer eine leichte Angelegenheit war. Harte Arbeit und Verantwortungssinn war in der Familie eine tägliche Herausforderung. Aber es ging nicht nur um die Arbeit. In der Landwirtschaft und im Wirtshaus kam die ganze Familie in Kontakt mit verschiedenen Geräten und Maschinen, wo immer irgendeine Gefahr der Verletzung oder sogar der Lebensbedrohung lauerte. Das galt auch für den Umgang mit Nutztieren in der Landwirtschaft. Vlasta hat alles gut beobachtet und eignete sich Vorsicht und eine sorgfältige Betrachtung der Umgebung bei der Arbeit und auch im Leben an. Gefährliche Geschichten, die sie so erzogen haben, hat es in ihrer Kindheit und Jugend einige gegeben, wie sie mir Jahre später erzählte.

Zerfetzte Bierflasche für Kateřinky


Der Vater von Vlasta, Tomáš Lehovec, schenkte Bier aus nicht nur in die Gläser oder Seidel, aber er verkaufte auch Flaschenbier und dazu brauchte er eine Füllmaschine. Der Apparat war damals nach dem technischen Stand der späten Zwanzigerjahre gebaut. Mit diesem Mechanismus war es möglich zwei Flaschen gleichzeitig mit Bier zu füllen, und zwar mit Hilfe von komprimierter Luft. Vor möglicher Explosion einer Flasche und nachfolgendem Umherfliegen lebensgefährlicher Glassplitter schützte sich der Bedienende, indem er über die Flaschen in der Füllmaschine ein Rohr aus einem dicken, dichten Metallgeflecht überziehen musste. Alle Arbeit mit den Flaschen passierte bei der Füllmaschine manuell, nichts war bis anhin automatisiert.

Eines Tages, als Tomáš wieder mit der Maschine arbeitete, und wie gewöhnlich möglichst schnell füllen wünschte, vergaß er vor dem Füllen das Schutzrohr über die Flaschen zu stülpen. Er machte es ähnlich auf diese Weise schon mehrere Male vorher und sparte dabei etwas Zeit und es war bisher nichts passiert. Aber diesmal ertönte beim Füllen ein höllischer Knall und eine der Flaschen flog auseinander in einer Unmenge von Scherben, die scharf wie ein Rasiermesser waren. Eine der Scherben traf Tomáše in den Hals, knapp neben der Halsarterie und verursachte eine ziemlich tiefe Schmisswunde, die sofort stark blutete. Die hebeigeeilte Boženka a Vlasta sahen auf der Füllmaschine und auf dem Boden überall nur lauter Blut, das sie sehr erschreckte, und so dachten sie im ersten Moment an das Schlimmste, dass Tomáš vielleicht tödlich verletzt war. Liebe Freunde, es ist nötig, sich vorzustellen, dass es damals in Katharina Dorf kein Telefon gab und dass es den medizinischen Bereitschaftsdienst, so wie wir ihn heute kennen, nicht gab. Bei allem Pech hatte Vater Tomáš noch etwas Glück, dass die Scherben nicht die Halsschlagader durchtrennten oder das Auge trafen.

Als Boženka und Vlasta die Verheerung sahen, waren sie sekundenlang wie gelähmt und Vlastička, die noch ein Kind war, die Arme, begann a ganzen Körper zu zittern. Vater Tomáš, der nach dem lauten Knall in der Ecke des Bierkellers, mit einem Handtuch um den Hals gebunden, saß, rappelte sich wieder auf und fragte Vlasta nach einem neuen Handtuch, worauf ihm das zitternde Kind eins brachte. Stellen sie sich vor, dass Vater Tomáš dann kurz die tiefe Wunde am Hals im Spiegel besichtigte, erneut seinen Hals mit einem frischen Handtuch umwickelte, und dann sogar fast ruhig die Füllung der Flaschen fortsetzte. Zum Glück schloss sich die Wunde am Hals durch den Druck des umgebundenen Handtuchs so weit, dass die starke Blutung aufgehört hat, und in relativ kurzer Zeit heilte sie zu, sodass schlussendlich alles gut ausging.

Beim Erzählen der Geschichte mit den fliegenden Glasscherben sagte mir Vlastička wie sie den Unfall noch heute vor sich lebhaft sieht und wie dabei ihre Knie beginnen zu schlottern. Es war in der Tat fast ein erschütterndes Erlebnis für ein kleines Kind, seinen Vater in Lebensgefahr zu sehen. Seit diesem Moment hat Tomáš nicht mehr sein Leben und Gesundheit riskiert und vor jeder Füllung setzte die schützende Metallröhre auf die zu füllende Bierflasche. Die Geschichte bekam für ihn eine Art von Memento. Die ganze Familie konnte das Ereignis lange nicht vergessen, es ist sogar zu den Ohren von Verwandten im Dorf Heiligen und Schoschowitz gekommen und es sprachen darüber auch die Gäste im Wirtshaus Bei Lehovec. Verständlicherweise wollte jedermann wissen, warum  Tomáš bei Bedienung der Gäste den Hals verbunden hatte. Mit der Zeit geriet es aber in Vergessenheit, nur die Narbe an seinem Hals blieb für den Rest seines Lebens und war auf den ersten Blick sichtbar.

Vlastička trug gern schöne Kleider und hübsche Schuhe


Seit ihrer Kindheit hatte Vlasta ein Gefallen an schönen Kleidern und wann immer sie die Möglichkeit hatte, mit Vater oder Mutter auf den breiten Straßen und Plätzen von Prag zu spazieren, äugelte sie die Geschäfte und untersuchte die Schaufenster mit Kinder- oder Mädchenkleidung. Sie brachte mit sich immer vom Besuch des Stadtzentrums irgendein schönes Dingelchen zum Anziehen, an dem sie Freude hatte. Während des Jahres gab es aber nicht viele Besuche von Prags Zentrum. Es war hier zuerst die Schule, die Vlasta nie vernachlässigte, und dann die zunehmende harte Arbeit in der Landwirtschaft und im Gasthaus. Am häufigsten besuchten die Lehovec Prag nach der Ernte am Ende des Sommers und dann im Herbst und Winter, wenn es etwas weniger Arbeit gab.

Als Vlasta schon in die Schule in Chodau ging und langsam in ein hübsches, elegantes Mädchen heranwuchs, war sie nicht mehr von der Begleitung ihrer Eltern abhängig und fuhr manchmal alleine los, um nach Prag zu gelangen, und hie und da nahm sie mit sich ihren jüngeren Bruder Břetislav, der überhaupt nichts dagegen hatte. „Břetík“ war ein gewisser Schutz für das Mädel, er war doch „maskulin.“  Der Bruder ist mit der Schwester gerne mitgefahren, es traf sich doch, dass es etwas Gutes zu Mampfen gab oder man besuchte das Lichtspielhaus, da die Schwester schon damals, mit ihren 14 Jahren, bei sich immer etwas Geld hatte, wohl wissend aber, dass sie damit vernünftig umgehen muss.  Der Moneten hat es nicht viel gegeben, wie man annehmen könnte, aber von dem, was Boženka und auch Tomáš dem Mädchen für gute Arbeit manchmal zugesteckt haben, konnte es genügend für die Ausflüge nach Prag oder anderswo sparen. Vlasta wusste immer im Voraus, was sie sich kaufen will, was ihr gefällt, aber auch was nicht sein muss.

In Prag kannten sich beide Geschwister schon gut aus. Vlasta kannte im Pragzentrum, in der Nähe des Wenzelsplatzes, des Nationalprospekts, des Grabens, viele guten Geschäfte mit Damenkleidung, Schuhen und Accessoires, aber auch mit hübscher Unterwäsche, worüber sie schon damals etwas Bescheid wusste. Sie erinnerte sich später mit leichtem Schmunzeln, wie Bruder “Břetík“ oft verlegen grinste, als er sie sah, elegante Unterwäsche im Geschäft zu beäugeln oder etwas zu erstehen. Er war doch noch ein “kleiner“ Bub, der sich sogar am Anfang etwas schämte, mit ihr in den Laden einzutreten. Aber er hat sich bald daran gewöhnt, dumm war er nicht. Am Anfang ihrer Jugend, ihrer Teens, wie man heute sagen würde, konnte Vlasta ihre adretten Kleidchen nur in der Schule zeigen und damit ein wenig angeben. Und das hat sie mit Freude und ihrem schönen Lächeln auch getan. Die Mitschülerinen haben sie anfangs etwas beneidet, aber als sie erfuhren, dass Vlasta ein Teil ihrer schönen Sachen mit gespartem Geld kaufte, das sie zu Hause für harte Arbeit bekommen hat, war alles wieder in Ordnung. In der Pause besprach man dann, wo man hübsche Sachen in Prag kaufen kann, wie die damaligen Preise waren und alles andere, was junge Damen interessierte. Jedes Mädchen trug mit seinem Kenntnissen zum Gespräch bei und vor allem auch Vlasta. Unterhaltungen über Mode hatte Vlasta sehr gern, sie trugen zum angenehmen Verlauf des Schullebens bei. Nach der Pause arbeitete man sicher mit größerer Freude. Gönnen wir es doch den jungen Mädels. Manche von ihnen, hauptsächlich die aus der Landwirtschaft, kannten schon in jungen Jahren nur Schuften und die Schule war für sie eher eine Erholung.

In der Schule in Chodau war Vlasta nicht die einzige, die schöne Sachen gern hatte. Dorthin gingen auch Töchter aus reichen Bauernfamilien von Chodau und umliegender Dörfer, die über die Mittel für teuere Mode natürlich verfügten, und mussten nicht wie Vlasta dafür zuerst sparen. Es ist aber nötig festzustellen, dass Vlasta immer irgendeinen Beitrag gewann,  manchmal auch wesentlichen, von ihrer Mutter Boženka, die immer Freude hatte, wenn Vlasta schöne Kleider und Schuhe tragen konnte. Boženka gönnte gerne ihren Kindern das, was sie selber in ihrer Jugend oft vermisste. Sie stammte aus einer vielköpfigen Familie und oft hat das Geld nicht für alle gereicht. Ihre Vorliebe für hübsche Kleidung und überhaupt für schöne Dinge hatte Vlasta im ganzen Leben, wie ich mich später überzeugen konnte. Sehr gern hatte sie Blumensträuße aller Arten, vor allem Rosen, die sie auch selber aufzüchtete. Wenn alles in ihrem Garten oder Blumentöpfen in Frühling oder Sommer blühte, bewirkte es in ihr große Freude. Ich glaube, ich hätte sie während unseres Lebens öfters beschenken sollen mit einem großen Bukett roter Rosen, als das ich getan habe. Nicht nur bei so genannten geeigneten Gelegenheiten wie Geburtstagen, Namenstagen, sondern auch an gewöhnlichen Wochentagen. Ich hätte so erhöht die Anzahl freudiger Augenblicke in ihrem Leben. NUR DAS ZÄHLT IM LEBEN, WIE ICH HEUTE WEISS und Vlasta hätte es verdient. Ihre Vorlieben führten nie zur Verschwendung, dagegen war sie zu gut seit ihrer Kindheit durch ihre Mutter geführt und erzogen.

Häufige Fahrradreisen nach Heiligen


Sie war stark an ihre große Kindheitsliebe gebunden, den Ort ihrer Geburt, das Dörflein Heiligen bei Ritschan, wo ihre Großeltern - Václav und Marie - und die ganze Familie der Hynek lebten. Ihre Liebe konzentrierte sich seit früher Kindheit auf ihren Großvater Václav, wie man schon früher erwähnt hat. Sie ließ keine Gelegenheit aus, um ihren Opa zu besuchen. Sehr oft hat der Großpapa sie selber mit Pferd und Kutsche abgeholt und brachte sie mit nach Heiligen. Das war für unser Mädel immer eine große Freude wenn nicht ein Fest.

Später, als sie heranwuchs, begann sie mit dem Fahrrad nach Heiligen alleine zu fahren und der Opa und andere Verwandten haben sie mit Freude empfangen. Vlasta kannte den Weg sehr gut, so wie ich es vorher beschrieben habe, obwohl sie in die andere Richtung fuhr. Die größte Mühe verursachte das Trampeln die scharfe bergauf Steigung, die wir Todeshügel nannten, im Dorf Kurschi (Kuří). Auch darum, weil das Velo von Vlasta immer voll beladen war mit irgendwelchen Geschenken für alle. Für Vlasta war die Reise von Katharina über Aujest nach Pruhonitz, am Schloss vorbei, mit seinem schönen Gehege, weiter Richtung auf das Dörfchen Kurschi, dann nach Ritschan und Heiligen keine übermäßige Anstrengung. Sie sorgte immer dafür, dass ihr Fahrrad in Ordnung war. Die Reifen durften nicht zu stark abgenützt sein. Vor einer längeren Reise fragte sie immer ihren Vater, es zu überholen und gegebenenfalls, das, was nötig war zu reparieren. Letzten Endes war ihr Vater ein Mechaniker und auf dem Gebiet des Velozipeds ein Experte.  

Und so kam sie nach Heiligen immer in bester Laune. Für ihren Besuch wählte sie oft das Ende der Woche oder einen geeigneten Feiertag, damit sie am gleichen Tag nicht zurückfahren muss. Sie wollte damit auch ihre Neigung zum Suchen von Waldpilzen zufriedenstellen. Am ersten Tag des Besuchs hat man gewöhnlich viel geredet. Die Hyneks waren gespannt, die Neuigkeiten zu hören: Wie es denn bei den Lehovec gehe, ob sie alle gesund seien, wie stehe es mit dem Wirtshaus und der landwirtschaflichen Arbeit und was sei Neues in Prag. Vlasta hat gerne erzählt und auch gern zugehört, es ging immer um bekannte Themen. Es handelte sich meistens darum, was ist in Heiligen Neues und wie es allen Hyneks und auch Verwandten und Bekannten in Ritschan geht. Die Unterredung dauerte längere Zeit des Tages, dabei aß und trank man und alle befanden sich in vergnüglicher Behaglichkeit. Am meisten freute sich Opa Václav, weil er wieder einmal seine Enkelin sah und mit ihr plaudern konnte.   

Als die Neugierde gestillt wurde, machte Vlasta einen Rundgang durch das ganze Anwesen und besichtigte alles gründlich. Sie wollte immer entdecken was sich von ihrem letzten Besuch veränderte und was gleich blieb. Am längsten verweilte sie im Garten, wo Großmutter Marie herrschte, aber Tante Fanny hauptsächlich waltete. Fanny liebte die Blumen gleich wie Vlasta und hatte einen Blumen- und Gemüsegarten, der schön gepflegt aussah, was Vlasta, wie ich weiß, sehr gefiel. Als sie den Rundgang beendete, nahte gewöhnlich der Abend, die Hyneks haben die Arbeit beendet und dann saß man vor dem Haus auf dem Vorflur und sprach über alles Mögliche, damit man den milden Sommerabend und etwas Gutes zum Essen genießen kann. Vlasta brachte immer irgendwelche Delikatessen aus Prag, die sich für die abendliche Debatte gut eigneten. Nächsten Tag früh am Morgen ging man selbstverständlich in den nahen Wald, die Pilze zu suchen.  

Mit Opa Wenzel in den Wäldern beim Pilzsammeln


Nördlich und westlich vom Dorf Heiligen strecken sich aus die bekannten Schwartzkosteletz Wälder (Kostelec nad Černými lesy). Vlasta sammelte gerne Pilze in tiefen Wäldern, wo die Wahrscheinlichkeit des Erfolges mit der Entfernung vom Dorf anstieg. Sie kannte sehr gut die Mehrzahl von essbaren, nicht essbaren und giftigen Waldgewächsen aus diesen Hölzern. Sie ging seit ihrer Kindheit in verschiedene Gehölze mit ihrem Opa Wenzel, der sie zusammen mit ihrer Tante Fanny lehrte, die Schwämme zu kennen und zuverlässig zu unterscheiden. Wie ich mich erinnere, kam es über die Jahre nie zu irgendeinem unangenehmen oder sogar gefährlichen Zwischenfall bei jemandem von uns, der die gesammelten und schmackhaft zubereiteten Schwammerl mit Appetit genoss. Gute Pilze zu finden war eine Kunst, die sich in ihr entwickelte, weil sie mit Wenzel die grünen Dickichte seit ihrer Kindheit kreuz und quer durchwanderte. Sie kannte alle verborgenen Orte, wo Ende Sommer und Anfangs Herbst essbare Fungi aus der Erde hervorbrachen. Wohlbekanntlich hat jeder Pilzsammler seine geheimen Stellen und tut sie nur ungern verraten. Gleich befand es sich bei unserem Mädchen. Anders war es beim Opa Wenzel. Er hat alle seine geheimen Sammelstellen der wunderbaren Waldgewächse, und ihrer war im großen Wald eine ansehnliche Menge, seiner Enkelin mit Freude verraten. Später freute er sich noch mehr, als ihm Vlasta ihre Kenntnisse dieser Orte bewies, weil sie immer wieder schöne Pilzlinge fand. Und so krochen sie gemeinsam durch tiefe Wälder, während dieser Jahre sicher viele Male, findend in ihnen eine der großen Lebensfreuden. Sie schritten durch Teile des Hochwaldes, sie drängten sich durch dichte Gebüsche und niedrige Baumbestände, sie lernten jede Ecke, jede Stelle kennen, wohin sich der Wanderer nur selten verirrt. Kurz und gut, sie kannten den Wald, im Umkreis von vielen Kilometern, vollkommen. Die beiden liebten nicht nur das Sammeln der Pilze, aber auch die Natur, die sie umgab, Pflanzen und Tiere. Die Waldgeschöpfe beobachteten sie aufmerksam, offen oder versteckt, damit sie nicht stören ihre forstliche Behaglichkeit. Der Ahn Wenzel gab dem kleinen weiblichen Sprössling seine reichen Lebenserfahrungen zurück, der seinerseits die Lebensweisheiten aufmerksam beherzigte und für die eigene Existenz anwendete. Oft merkten sie nicht, wie die Zeit läuft, dass ihr Herumschwelgen in der Natur schon viele Stunden dauerte. Sie kehrten in das Gehöft der Hyneks zurück, manchmal durchgekühlt und spröde, aber selten ohne gute essbare Steinpilze. Nicht selten erschienen der kleinen Enkelin nach einem langen Waldspaziergang die Pilze im Traum. Sie sah in den auf dem Boden gefallenen braunen Nadeln sich erhebende kleine Hügel, unter welchen sie wunderschöne kleine weiße Steinpilze fand, die größeren hatten schon bräunliche Köpfe, die für das Einlegen in Essig geeignet waren. Der Leser weiß sicher, dass es eine gute Beilage zum Fleisch ist. Hie und da erzählte sie mit freudigen Augen über solche Träume und alle in ihrer Umgebung freuten sich mit, während sie ihre Begeisterung beobachteten.

Lieber keine Totentrompeten und Riesenschirmlinge


Von den Pilzsammler Kenntnissen der Vlastička, wie man gute essbare von schlechten oder giftigen Pilzlingen auseinanderhält, profitierte, fast ungewollt, auch ich, ihr älterer Sohn, als sie mit mir, schon als kleinem Knirps, den Militschau Wald bei Katharina durchwanderte, und mich aufmerksam darauf machte, wie man einen echten Steinpilz von einem Satanspilz unterscheidet. Sie zeigte mir auch wie man den Grünen Knollenblätterpilz vom Grasgrünem Täubling oder einem schönen Hainbuchen-Röhrling  auseinanderhält. Sie kannte ebenfalls die Differenz zwischen Fliegenpilz und dem Zinnober Täubling, den sie aber nicht sammelte. Sie nahm jedoch Gold-Röhrlinge, Edel-Reizker, Filzröhrlinge und Echte Pfifferlinge und erkannte sie unter vielen, sich im Wald und Wiese befindlichen Pilzen, wie Boviste und Totentrompeten, die aber ihr Vertrauen nicht gerade weckten. Sie zeigte mir auch was der Gemeine Riesenschirmling ist, den sie aber aus Vorsicht lieber nicht sammelte.

Abschiednehmen, Ach Abschiednehmen… vom Grosspapa


Die Zeit bleibt nicht stehen und besonders schöne Momente gehen schnell vorbei, so erscheint es uns meistens. Dieses Gefühl hatte nach jedem Besuch von ihrem Geburtsort auch Vlasta. Nach zwei oder drei Tagen musste sie sich mit ihrem Fahrrad wieder auf die Rückreise begeben. Fast nie verbrachte sie bei den Hyneks mehrere Tage, so viel Zeit hatte sie nicht. Umso mehr waren für sie die Besuche in Heiligen persönlich bedeutender und ihrem Denken kostbarer. Dann folge das Abschiednehmen, wie in einem traurigen tschechischen Lied, “Abschiednehmen, ach Abschiednehmen, und ihr Herzlein war nahe am Zergehen,“ aber alle hofften, dass sie sich bald wieder sehen werden, obwohl man immer etwas Schmerz im Herzen verspürte. So ergab es sich auch bei Vlasta, besonders beim Abschiednehmen vom Großvater. Dem Opa ist dabei immer eine geheime Träne vom Auge gekullert war und der Vlasta auch.   Dann ist sie nach Katharina zurückgekehrt, wieder mit Fahrrad voll beladen mit Geschenken, die diesmal die Hyneks den Lehovecs schickten. Alle sind mit Vlasta vor das Hoftor getreten, als sie ihr Vehikel hinausführte, nach der letzten Umarmung darauf stieg, winkte noch, und dann langsam auf der Straße nach Ritschan hinabfuhr, als ob sie nicht eigentlich möchte. Die Hyneks standen beim Tor, winkten ein letztes Mal und schauten, wie sie sich langsam entfernte, bis sie völlig hinter dem Viadukt verschwand. Es hilft nichts, die Szene “Abschiednehmen, ach Abschiednehmen“ wiederholt sich in jedem menschlichen Leben viele Male. Aber als Vlasta unter dem Viadukt durchfuhr, es war als ob jede Traurigkeit von ihr abfiel, und sie begann sich wieder auf ihre Eltern, ihren Bruder und ihr Heim zu freuen, nachdenkend, wie sie alles erzählen wird: was sie beim ihrem Besuch erlebte, wie es allen Hyneks geht, wie sie alle ein wenig beschenkte und hauptsächlich wie viele Pilze sie im Wald fand. Die gesammelten Schwämme hat sie mit sich genommen zum Zweck der Trocknung, zum anschließenden Kochen von Kartoffelsuppe und von Saucen.  In ihr ist schon, neben anderen Eigenschaften, eine gute Wirtschafterin gewachsen, die an alles gedacht hat.

Auf den staubigen Straßen der Zwanziger- und Dreissigerjahre


Die Reise nach Hause ging weiter ohne besondere Vorkommnisse und Vlasta genoss dank ihrer fröhlichen Jugend voll den schönen Ausflug mit dem Fahrrad. In dieser Zeit waren solche Reisen ein wahrer Genuss. Auf den Bezirksstraßen verkehrten nur spärliche Automobile. Auch Pferdegespanne waren selten und es war möglich an ihnen mit dem Fahrrade schnell vorbeizufahren.

Wenn man aber doch ein Auto auf der staubigen Straße traf, war es nichts Angenehmes, weil die aufgewirbelten Staubwolken auf den Radfahrer fielen, drangen in seine Augen, in seinen Mund und auch in alle Falten seiner Kleidung. Auf nasser Straße hat ein Auto wieder den Schmutz auf alle Seiten verspritzt, insbesondere wenn es in ein Schlammloch hineinfuhr. Und es hat viele Löcher damals auf den Straßen gegeben, wie ich mich noch gut erinnere. Jeder Radfahrer vermied deshalb eine Begegnung mit einem motorisierten Vehikel, solange er konnte, meisten so, dass er rechtzeitig von der Straße auf einen Acker, Feldweg oder in den Wald hinausfuhr und dort abwartete, bis sich der aufgewirbelte Staub legte und das Auto sich entfernte.

Auf den Straßen zwischen Heiligen und Katharina am Anfang der Dreißigerjahre veränderten sich die Bedingungen langsam zum Besseren, als man allmählich mit der Asphaltierung begann. Vlasta begann mit ihrem Rad ihre Reisen gerade während der Zeit, als man die Straßen teilweise asphaltierte, wie ich annehme, oder aber man die letzten Asphaltteile fertigstellte. 

Als Vlasta Katharina erreichte, es konnte nach anderthalb Stunden Fahrt gewesen sein, musste sie die gewöhnlichen Pflichten des Bauerndaseins auf sich nehmen, aber auch viel wichtigere Aufgaben in der Schule. An Heiligen, den Großvater, andere Verwandten und schöne Erlebnisse blieb eine Erinnerung und in der Seele eine freudige Erwartung des nächsten Besuchs. Im Wirbel ständiger Arbeit in der Landwirtschaft und in der Schule in Chodau, wohin Vlasta täglich fahren musste, rann die Zeit viel schneller, als das sie gewahrte.

Erntearbeit auf den Feldern und die Schule der Frauenberufe


Die größte Arbeit für die ganze Familie gab es zur Zeit der Ernte. Zu der täglichen Sorge für die Nutztiere, kam noch die ausgiebige Anstrengung auf den Feldern mit gereiften Getreiden. So eine Belastung konnten die Lehovecs nicht alleine bewältigen und zogen zur Hilfe jedes Jahr bei der Ernte einige Frauen und Männer aus dem Dorf bei. Es handelte sich vielleicht immer um fünf bis zehn Leute, die halfen auf den Feldern beim Mähen von Getreide mit dem Garbenbinder, beim Stapeln der Garben, beim Trocknen und Rechen. Etwas später halfen angeheuerte Menschen beim Heranfahren der Getreide zu der Dreschmaschine, beim Abfüllen von gedroschenem Korn in die Säcke und dessen Lagerung auf dem Speicher. Unterm im Sommer heißen Dach, wo es geschah, waren die Körner ausgeschüttet auf den Holzboden in hohe Haufen und geteilt nach ihrer Art. Die Getreidehaufen mussten regelmäßig mit hölzernen Schaufeln umgeworfen werden, damit die Getreidekörner gut austrockneten und nicht faulten, es musste so gründlich durchlüftet werden.

Gewiss arbeiteten die Helfer bei der Ernte für den abgemachten, wahrscheinlich üblichen Geld- und Naturalwert. Es war nichts Ungewohntes, die ganze Bauernschaft im Dorf tat es gleich. Keine Landwirtfamilie war so zahlreich, dass sie die Erntearbeit alleine, ohne fremde Hilfe, verkraften konnte. Einige Menschen vom Dorf halfen ganz gerne, weil so verdientes Geld für sie ein ökonomischer Beitrag war.

Zu dieser Zeit, gegen Ende der Dreißigerjahre, als sich über Europa bereits dunkle Wolken des Nazismus und des Zweiten Weltkrieges zusammenzogen, war unser Mädchen Vlasta und ihr Bruder Břetislav so weit erwachsen, dass sie bei der Bauernarbeit völlig mitmachten. Es handelte sich meistens um schwere Arbeit, manchmal eine Schinderei, wie ich mich konnte auf eigenem Leib ein paar Jahre später überzeugen, als ich den Lehovecs während der Ernte wenigstens ein wenig helfen wollte. Mit der Zeit etablierte sich bei den Lehovecs eine gewisse Arbeitsteilung. Außer Vlasta waren die Lehovecs auf den Feldern, in dem großen Stadel beim Getreidedreschen oder auf dem Speicher, wie es grad nötig war. Die schwerste Arbeit machten die Männer, aber die Frauen hatten es auch nicht leicht. Ich weiß wie Mutter Boženka auf den Feldern in Sonnenglut mit anderen Frauen beim Stapeln der Getreidegarben und beim Rechen stundenlang arbeitete. Wenn zuweilen nach dem Regen das Getreide flach lag, und konnte nicht wegen großer Verluste mit dem Garbenbinder geerntet werden, nahm sie teil am manuellen Drehen der Strohbänder, beim Binden der Garben und beim Stapeln.  Beim Entkörnen der Garben stand Boženka oft lange Stunden im großen Stadel oben auf der Plattform der Dreschmaschine und schob die Getreide, mit den Ähren voraus, über den Tisch der Maschine, sodass sie in die schnell rotierende Eisentrommel fielen, die sich in die Strohhalme reinbiss, dabei sehr laut grölte und eine schreckliche Staubentwicklung verursachte. Es war eine ziemlich gefährliche Arbeit, man musste auf eigene Hände aufpassen und sorgfältig das Gleichgewicht wahren. Jeder, der die Drehmaschine bediente, musste ständig aufmerksam bleiben, wenn er einen Unfall verhindern wollte. Diejenigen, die die Getreide in die Maschine schoben, mussten deshalb alle zwei bis drei Stunden ausgewechselt werden. Nach Boženka trat gewöhnlich Tomáš an, später dann Břetislav oder der Knecht Adam. Vlasta führte diese Arbeit nie aus, weil es ihre Eltern nicht wollten. Tomáš, der alle Aktivitäten während der Ernte organisierte und führte, wollte nicht einmal, dass jemand von den fremden Helfern oben stand und in die Maschine eingab. Er betrachtete diese Arbeit als zu gefährlich.

Vlasta, war nur selten beim Dreschen dabei. Sie umsorgte vor allem den Bauernhof, die Nutztiere und den Betrieb im Wirtshaus. Nicht zuletzt musste sie ein Mittagessen für zehn bis fünfzehn Mitarbeiter vorbereiten und auch einen Imbiss für die zehnte und sechzehnte Tagesstunde und dazu gekühltes Bier, Limonade und Sodawasser, je nach individuellem Wunsch. Sie musste auch darum besorgt sein, dass die Leute vor dem Essen ihre Hände waschen konnten, sei es auf dem Felde oder dort, wo sie gerade arbeiteten. Mit etwas Einbildungskraft kann man sich vorstellen, was für eine Arbeitsmenge das Mädchen bereits in ihrer Jugend bewältigen musste. Notabene hat sich mein Mädchen an die Zeiten ihrer Jugend, ihr Heim, ihre Familie gern und mit Freude erinnert, über alles erzählend und ich hörte ihre gerne zu.

Es hilft nichts, die Jahre langsam vergingen, es kam der Frühling des Jahres 1936 und Vlasta beendete mit lobenswertem Fortgang die Bürgerschule in Chodau. Ich denke, dass sie aufatmete, als sie die Grundbildung gewann, womit sich die Arbeitsbelastung verringerte, weil die Schule wegfiel. Sie musste nicht mehr an jedem Wochentag früh am Morgen mit dem Fahrrad in die Schule pressieren und am Nachmittag wieder nach Hause, ein wenig essen, die Hausaufgaben machen und sich dann in die Land-  und Wirtshausarbeit stürzen, die auf sie schon wartete.

Das was Vlasta erreichen wollte, ihren Wunsch, eine Mittelschulbildung zu erreichen, wurde ihr leider nicht gewährt. Sie ließ sich aber nicht fallen und wollte auf keinen Fall ihr Leben bei bäuerlicher Schufterei verbringen. Sie hatte Übersicht über ihr zukünftiges Leben schon mit ihren fünfzehn Jahren. Sofort nach den Ferien meldete sie sich in der Schule für Frauenberufe in Prag I an, die in der Straße der Renate Tyrsch war. Die Straße heißt heute, glaube ich, Křížovnická und das alte Schulgebäude steht dort immer noch. Die Schule dauerte zwei Jahre, sie war für Frauen bestimmt, die später eine Familie gründen oder sich selbstständig machen und irgendein Frauenberuf ausüben wollten. Das spätere Leben von Vlasta zeigte, dass die Schule für sie sehr nützlich war. In Juni 1938 beendete sie die Ausbildung und nahm noch kaufmännische Kurse an der Maděraschule. Somit war ihr Schulgang vorläufig abgeschlossen.

Die Zeit kurz vor dem Zweiten Weltkrieg


Im Jahr 1933 ist der Österreicher Adolf Hitler, von Beruf angeblich ein Tapezierer und Dekorateur, in Deutschland an die Macht gekommen.

(Ich weiß nicht, woher Hugos Informationen über diese Hitlers Berufe kamen. Aus mir zugänglichen Quellen stellte ich fest, dass nachdem Hitler wiederholt die Abschlussprüfung an der Realschule in Steyr nicht ablegen konnte, ging er fort nach Wien, wo er sich bemühte ein Kunstmaler zu werden, und zweimal vergeblich versuchte sich an der Kunstakademie zum Studium der Malerei anzumelden. In der Folge lebte er vom Geld geerbt von seinem Vater und von einer kleinen Weisenrente. Als ihm die Mittel ausgingen, erfuhr er Armut, er wohnte in Unterkünften, schlief in Bahnhöfen oder auf den Bänken und wurde verbittert. Nirgends waren Angaben, dass er eine Lehre als Polsterer oder Tapezierer gemacht hat. Er verkaufte eigenhändig gemalte Plakate und Aussichtskarten, es blieben nach ihm einige Kunstbilder, und er übte Gelegenheitsberufe aus, vielleicht auch als Tapezierer und Dekorateur. Bald ging er weg nach Bayern und München, weil er Österreich und Wien hasste, welche für verdorben hielt, voll von marxistischen und jüdischen Verschwörungen. Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges veränderte sich das Schicksal Hitlers schlagartig. Die Wellen von Militarismus, Nationalismus und Antisemitismus rissen ihn mit, die ihn dann auf den Gipfel des totalitären deutschen Dritten Reiches auswarfen, das er begründete, als ob es eine historische Notwendigkeit gewesen wäre.)

Sein Machtantritt war, neben Anderem, durch ungute ökonomische Situation in Deutschland erleichtert, die infolge des verlorenen Ersten Weltkrieges entstand und auch wegen eines kurzsichtigen Vorgehens der Siegermächte gegenüber Deutschland. Hitlers fanatisierende rednerische Auftritte, zusammen mit seiner beinahe närrischen und theatralischen Mimik brachten es fertig, dass die deutsche Nation in niederschmetternder Mehrzahl zu stürmischen Erklärungen des Beifalls manipuliert und hypnotisiert wurde. Die Leute waren durch Hitlers unversiegbare Versprechungen des tausendjährigen herrlichen Reiches der deutschen Nation und ihrer Weltherrschaft fasziniert. Seine Behauptung unterstrich er noch durch wahnsinnigen Hass gegenüber sog. minderwertigen Nationen, den Slawen und anderen, aber hauptsächlich den Juden, auf die er die Schuld für den verlorenen Ersten Weltkrieg überwälzte, und die er beschuldigte, die Ursache der Verelendung des deutschen Volkes und der Verunreinigung seiner “reinen“ Rasse zu sein. Seit seinem Machtantritt bereitete er sich durch gewaltige Aufrüstung auf den Krieg vor, er baute Autobahnen und sorgte so, wenigstens vorübergehend, für volle Beschäftigung. Die meisten Leute glaubten ihm deshalb alles. Nur wenige Deutsche schauten die Unmöglichkeit seiner Versprechungen durch und überlegten die Folgen des durch Deutschland geführten blutigen Krieges bis zum bitteren Ende. Selten sah einer von ihnen, welche Schrecken und Leiden am Ende ewiger lügenhafter Versprechungen auf das deutsche Volk warteten. Aber es ging hier nicht vor allem um das deutsche Volk, es ging um die europäischen Nachbarn der Deutschen und letzten Endes um fast die ganze Welt.  Leider wählten die armen deutschen Leute den Weg des Nazi-Wahnsinns, der gottseidank heute wie ein historischer Irrtum aussieht, aber es geschah wegen der Unfähigkeit in die Zukunft realistisch zu schauen, weswegen sie dann anschaulich und relativ signifikant, aber nicht definitiv, büssen mussten. Es war ihre Sache, sie hatten, wie die anderen, Möglichkeit aus der Weltgeschichte und vorherigen Versuchen der Weltbeherrschung durch verschieden Diktatoren zu lernen. Im Übrigen sind doch fast allen die kleinen oder großen Napoleons, Caesars etc. gut bekannt.

Rücksichtslose Kräfte der Ungerechtigkeit aktiv in der Geschichte


Aber kennt die Menschheit wirklich die rücksichtlosen Kräfte der Ungerechtigkeit, die sich seit undenklichen Zeiten bemühen, die Geschichte zu beeinflussen, um die Totalität und Schreckensherrschaft zu errichten, denen im Weg die mächtige Mauer jemandes starken Willens steht? Des Willens, der fordert, dass die Welt zuletzt mit wirklicher Freiheit, entbunden von jeglicher sinnlosen Sklaverei, erfüllt wird. Die Unkenntnis dieser Tatsachen verursacht, dass auch heute noch ein großer Teil der Menschheit verblendet ist, und bemüht sich sogar, verschiedene kleine und große Diktatoren nachzumachen. Am krassesten ist aber, wenn irgendwelche Nationen so verwildern und moralisch veröden, dass sie das Gute schlecht nennen und das Böse gut. Irgendein historischer Mechanismus existiert angeblich, irgendeine spirituelle Kraft, die es zulässt, dass solche Völker am Ende völlig entwurzelt werden. Wir warten also immer noch, dass es von jenem historiebeeinflussenden Aggregat verwirklicht wird. Nach bescheidener Ansicht mancher, gibt es auf der Welt ein paar Völker oder Gruppen, die sich, verblendet zu ihrem eigenen Unglück, in dieser fatalen Richtung bewegen.  

Wir waren schon seit längst vergangenen Zeiten Nachbarn großer  Nationen. Als der Stammvater der Tschechen (Čech) dazumal unsere Vorfahren in diese angenehmen Orte brachte, ahnte er nicht, was uns dort in den kommenden Jahrhunderten neben ihnen erwartet, aber er hätte es als guter Urvater wissen müssen. (Wie es scheint auch er sah nicht klar in die Zukunft oder vielleicht doch, aber um der Schönheit der Orte willen, hat er die Folgen in Kauf genommen? Es ist, als ob die tschechische Hymne diese Ambivalenz auch widerspiegeln würde. Es beginnt mit der Frage “Wo ist meine Heimat?“ Dies wird wiederholt gesungen und dann wird die Schönheit des Landes beschrieben: Die Gewässer durch Wiesen brausen, die Kiefernwälder auf Felsen sausen. In den Gärten Frühlingsblüten strahlen, den Himmel auf Erden dem Blick auszumalen (eigene Übersetzung)).   War es sein Fehler? Er konnte jedenfalls nicht mehr korrigiert werden. Es ist eine erstaunliche Ironie, dass gerade ein Deutscher, der Dichter Friedrich Schiller, die Situation mit seinem Ausspruch genau umschrieb, dass der friedfertigste Mensch nicht im Frieden leben kann, wenn es ihm sein Nachbar nicht erlaubt. (Das Zitat tönt im Original ähnlich, aber der friedfertigste Mensch wird bei Schiller der frömmste Mensch genannt: Es kann der Frömmste nicht in Frieden bleiben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt (aus dem Drama Wilhelm Tell)).   

Der Kaiser Karl IV lud angeblich viele Handwerker deutscher Sprache nach Böhmen ein, damit sie unsere Vorfahren die Handwerke unterrichteten. Die Belehrung durch diese Geschichte sollte, wie ich vermute, sein, dass es nicht unbedingt nötig war. Die Handwerke und andere fachmännische Aktivitäten lernten wir durch die Jahrhunderte vor allem durch eigene Anstrengungen. Viele unserer fähigen Leute gingen weg in die Lehre nach Italien, Frankreich, und schlussendlich nach ganz Europa; in neuerer Zeit sogar in die ganze übrige Welt, und sie waren dort meistens erfolgreich. Die Einladung von Karl IV verursachte bei den Eingeladenen ein Gefühl der Überordnung, der sich bis in die heutige Zeit gehalten hat, wenigstens bei der älteren Generation. Leider hat man bei einigen Völkern zum Eigengefühl der Überlegenheit eine Neigung, die durch Erziehung noch verstärkt wird. Es ist vielleicht genetisch mitbedingt, kann manchmal ein Fluch werden, und es ist nicht nur bei einer Nation vorhanden. Der Kaiser Karl IV, der einen luxemburgischen Vater und eine tschechische Mutter hatte, rief die Ausländer in das Königreich Böhmen hauptsächlich aus Eigeninteresse, damit sie ihm für die damalige Zeit luxuriöse Burgen, Kirchen und Gebäuden bauten, die im Inneren mit Pracht, und sagen wir künstlerisch, ausgeschmückt worden sind. So machte es auch der übrige tschechische Adel. Und dabei weiß man, wer das alles schlussendlich bezahlen musste.  Aber ich habe nichts gegen architektonische Kunstschätze und Bauten, ich staune sogar über sie. Wenn ich sie beobachte, wundere ich mich, was damals Leute bewerkstelligen konnten, und dazu ohne neuzeitliche Mathematik und elektronische Hilfen und Rechner.  

Hugos Sicht der Nationalitätenprobleme in Böhmen


Deutsche Handwerker kamen also in unser Land, ein großer Teil sogar mit ihren Familien, und einige blieben bis zu ihrem Tod. Es waren die Vorfahren unserer neuzeitlichen deutschen Minderheit, aber sicher nur zum Teil. Viele Ausländer kamen zu uns in Zeiten, wo es ihnen bei sich zu Hause nicht gut ging, auch wenn sie niemand eingeladen hat, nach verschiedenen kleinen und großen Kriegen und zu Zeiten religiöser Verfolgung. Genug kamen, glaube ich, nach dem Ersten Weltkrieg, als bei ihnen Not war. Wir waren Nachbarn und es war nicht schwierig zu uns zu gelangen. So entstand die Minderheit der Sudetendeutschen, die später eine unheilvolle, geradezu veräterische, Rolle in der Geschichte der Ersten Tschechoslowakischen Republik spielte. Sie verursachte ihre Zerschlagung durch die Hitlerhorden und somit entstand auch der Brand des Zweiten Weltkrieges. (Hugo nahm wahrscheinlich an, dass die Sudetendeutschen, die das tschechoslowakische Bürgerrecht hatten, sich aber zu der deutschen Nationalität bekannten, hätten loyal zum Land in dem sie gelebt haben bleiben sollen. Die Tatsache ist, dass noch heute auf dem nördlichen und westlichem Gebiet der Tschechei rund 39 Tausend tschechischer Bürger deutscher Nationalität leben, was ca. hundertmal weniger ist als vor dem Zweiten Weltkrieg.)      

Der deutschen Minderheit ging es in Böhmen und Mähren nicht schlecht, wie es einige Kreise der Welt einzureden versuchten.

Ich war Zeitgenosse und an die damalige Zeit erinnere ich mich sehr wohl. Wenn es einigen Deutschen schlecht ging, war es wegen der schlechten wirtschaftlichen Entwicklung im Land und in der Welt, und die Tschechen, die mit und neben ihnen wohnten, waren gleich schlecht daran. Ihre Lage war also nie Folge irgendwelcher Unterdrückung vonseiten der Tschechen. Die meisten der Minderheit lebten in der Nähe der Grenze, in waldreichen, vielleicht weniger entwickelten Gegenden, wo es wenig Industrie gab, wo das Leben sowohl für den Tschechen, als auch für den Deutschen schwer war. Und wie es bei den Minderheiten meisten gibt, halten sie am liebsten zusammen, auch über die Jahrhunderte. In das Binnenland zogen viele nicht, meistens war es eher die Intelligenz unter ihnen, die in die Innenstädte oder nach Prag ging, oder aber entwickelte sie sich aus den Kindern der Vorgänger, die das Ziel hatten. In den Städten hat es eher Schulen, um eine breitere Ausbildung zu erwerben. Sie hatten aber Schulen mit deutschsprachigem Unterricht im ganzen Land, sie hatten solche Theater, sportliche Organisationen, andere Einrichtungen, und kriegten sogar für kulturelle Zwecke staatliche Subventionen, in gleicher Weise wie die Tschechen. Um nicht in den Wind zu reden, führe ich Beispiele von deutschsprachigen Institutionen in Prag an, wie z.B. Volksschule auf den Weinbergen in der Moravska Straße, die Realmittelschule in Mikulandska Straße, das Klassische Gymnasium in der Stephansgasse, das Deutsche Theater bei Wilson Bahnhof, und schlussendlich die Deutsche Universität. Im Sudetenland hatte man eigene politische Parteien. Wie ich mich erinnere, war eine ihrer besonders stark, die Deutsche sozial demokratische Arbeiterpartei in der Tschechoslowakischen Republik, die durch einen vernünftigen deutschen Abgeordneten, weiß nicht mehr, wie er hieß, geführt wurde. Die besagten politischen Parteien hatten ihre Abgeordneten im tschechoslowakischen Parlament und in der Regierung. Alles ging gut, bis auf der Weltszene Adolf Hitler erschienen ist. (Hugo schrieb diese Zeilen seit Ende von 1996, nach dem Tod seiner geliebten Vlastička, als er schon 74-jährig war, sodass er sich nicht an alle Details erinnerte. Er hatte aber recht, das es in deutschen sozial-demokratischen Partei gemäßigte Politiker gab, wie ihr Vorsitzender Ludwig Czech der zwischen 1929 und 1938 das Amt eines Ministers für soziale Fürsorge innehatte. Später hatte er andere Ministerposten, in denen er sowohl deutschen als auch tschechischen Arbeitern helfen konnte. Er war loyal zum tschechoslowakischen Staat.  Nach seinem frühen Tod nahm der Einfluss von Nationalsozialismus stark zu und Ludwig Czech wurde durch Wenzel Jaksch gefolgt, wonach bald der Einmarsch Hitlers Truppen ins Sudetenland stattfand.)     

Unter den Sudetendeutschen entstand nach Hitlers Machtantritt die fanatische Sudetendeutsche Partei (SdP), deren Leiter, Konrad Henlein, nur eine Marionette der Nationalsozialisten aus dem Reich war, nach denen er sich ausrichtete und deren Befehle er entgegen nahm.  

Wie Europa den Hitler fürchtete


Für die Tschechen im Grenzgebiet begannen schlimme Zeiten. Die deutsche Gewalttätigkeit nahm ständig zu. Wer die Möglichkeit hatte, zügelte um in das Binnenland. Hitler hetzte immer mehr gegen die Tschechoslowakei, rüstete ständig auf und ganzes Europa fürchtete sich vor ihm. Schlussendlich vereinbarten die Ministerpräsidenten von Frankreich und England, die Herren Daladier und Chamberlain, am 29.-30.9.1938 mit Hitler das sog. Münchnerabkommen, wonach die Tschechoslowakei das Sudetenland im tschechischen Grenzgebiet dem Deutschen Reich abtreten musste. Dies trotz der Tatsache, dass Frankreich und England eigentlich mit der Tschechoslowakei ein Beistandsabkommen hatten, wonach sie sogar zur militärischen Hilfe verpflichtet gewesen wären.
Es war von beiden Staaten ein unerhörter Verrat. Für die im Grenzgebiet lebenden Tschechen und auch für die ganze Nation begann eine Tragödie, der Beginn der Auflösung der Tschechoslowakei, was bald danach, am 14.-15. März 1939, folgte. Ich erinnere mich an jenen Tag, als die deutschen Truppen unseren Staat besetzten, und ich sehe es noch heute, als ob es gestern gewesen wäre. Ich war damals 17 Jahre alt, ging auf die Mittelschule, aber an dem Tag fiel der Unterricht aus. Ich stand am Vormittag auf dem Gehsteig in der Straße “Am Graben“ unter vielen Pragern und beobachtete die Ankunft der Hitler Horden. Es war ein unseliger Tag, kalt, neblig und es fiel der Schnee. Man kann sich vielleicht unsere verzweifelte Stimmung vorstellen, die das düstere Wetter noch verstärkte.   

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